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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter May
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konzentrierte sich auf jedes Detail – einen Würfel Zucker; umrühren, bis er sich ganz aufgelöst hat; einen Spritzer Milch; das Kreisen des Löffels. Das langsame Heben der Tasse an die Lippen zu einem winzigen Schluck. Dann wandte sie den Blick wieder zur See, diese scheinbar grenzenlose, ewig wandelbare Wasserfläche, auf die sie in unzähligen einsamen Stunden hinuntergeblickt haben musste.
    «Und so war ich allein. Mein Baby und mein Geliebter waren tot. Meine ganze Welt ein Scherbenhaufen. Da hatte ich wirklich das Gefühl, als läge ein Fluch auf mir, Mister Mackay. Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie mir damals zumute war. Ich würde nie wieder mit einem anderen Mann zusammen sein. Niemand konnte je an Reginalds Stelle treten. Aber ich konnte ein Kind großziehen, mir eine Aufgabe stellen, nachdem mein Leben jeden Sinn verloren hatte. Auch wenn ich wusste, dass ich keine zweite Geburt überleben würde, selbst wenn mich ein Mann geschwängert hätte.»
    Sie nahm ein paar kleine Schluck Tee und stellte die Tasse ab. «Wissen Sie, wohin ich auch sah, bekamen Frauen Kinder. Frauen, die es nicht verdienten, Kinder zu haben, oder die sie gar nicht wollten. Frauen, die schon vom Ansehen schwanger wurden, die eine Nacht ihren Spaß hatten, ein Moment der Unachtsamkeit …» Sie warf Enzo einen verständnisheischenden Blick zu. «Und ich konnte auch keins adoptieren. Damals noch nicht. Als alleinstehende Frau. Geschweige denn als Bluterin. Es war so unfair.»
    «Und Sie fanden es fair, jemand anderem das Kind zu stehlen?»
    «Oh, ich habe es mir mit der Wahl nicht leichtgemacht, das können Sie mir glauben. Das war kein spontaner Einfall. Ich hatte es monatelang vorbereitet. Reginald hatte in seinem Testament gut für mich vorgesorgt. Ich habe das Haus in England verkauft und bin nach Frankreich gekommen. Ich hatte keine lebenden Angehörigen, also keine Bindungen, es gab niemanden, der meine Vorgeschichte kannte.
    Ich fand dieses Haus hier in Collioure. Ich habe es gekauft und eingerichtet. Wenn es so weit wäre, würde ich als die trauernde englische Witwe einziehen, die mit ihrem kleinen Sohn hierherkäme, um ein neues Leben anzufangen. Ich hatte Richard in meinen Pass eintragen lassen, wissen Sie. Ich hatte immer noch seine Geburtsurkunde. Bei der Behörde konnten sie nicht wissen, dass er tot war.»
    Plötzlich dämmerte es Enzo. «Richard – Ihr eigener Sohn hieß Richard?»
    «Ach so, ja. Das hat für mich in Cadaqués den letzten Ausschlag gegeben. Dabei hatte ich den Jungen schon im Auge, bevor ich wusste, dass er Richard hieß. Das konnte einfach kein Zufall sein. In meinen Augen war es eine Schicksalsfügung. Auch wenn ich inzwischen weiß, dass es, wenn überhaupt, eher eine Strafe als ein Segen war.»
    Sie lächelte wehmütig und versonnen, während sie sich mehr Leid als Freude in Erinnerung rief. «Ich wohnte in einem anderen Hotel, ein Stück entfernt an derselben Bucht. Schon ein paar Wochen war ich da und brachte meine Tage damit zu, an den Pools umliegender Hotels zu sitzen und die Familien mit ihren Kindern zu beobachten. Manchmal folgte ich ihnen unauffällig, manchmal kam ich mit ihnen ins Gespräch. Ich stellte für niemanden eine Bedrohung dar – eine junge Frau ohne Begleitung, noch mit dem Ehering am Finger. Falls mich jemand danach fragte, sagte ich ihnen die Wahrheit. Mein Mann sei bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen, und ich sei in Spanien, um für ein paar Wochen ein wenig Abstand von dem Horror zu gewinnen. Da habe ich dann Richard zum ersten Mal gesehen. Am Pool, mit seiner Familie. Und dann später am Strand. Ich hab sogar ein Foto von ihnen gemacht und es in einem Fotoatelier in der Stadt entwickeln lassen. Er war so ein hübscher Junge. Blond, wie mein eigener Richard. Vor allem aber: Sie waren zwei. Eineiige Zwillinge. Wie schlimm es für die Mutter auch sein mochte, ein Kind zu verlieren, so blieb ihr immer noch das andere. Außerdem hatten sie ein drittes, eine ältere Tochter.»
    «Und das rechtfertigte es für Sie?» Enzo konnte den missbilligenden Ton in seiner Stimme nicht unterdrücken.
    Sie reagierte empfindlich, als hätte man sie mit einer Nadel gestochen, und versuchte, sich zu verteidigen. «Sie hatte schon drei Kinder und hätte mehr bekommen können, wenn sie gewollt hätte. Sie war Katholikin, es lag also nahe.»
    «Und so haben Sie ihn entführt.»
    «Ja. Ich hatte ihm so viel mehr zu geben. Er würde meine ungeteilte Aufmerksamkeit

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