Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
reichte Enzo die Kopie. «Und ich fürchte, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.»
Aber Enzo hatte, wie er fand, alles erfahren, was er wissen musste.
Kapitel neunundvierzig
Der Parkplatz war in Flutlicht getaucht, die weißen Gebäude auf dem Hügel hoben sich scharf vom schwarzen Himmel ab. Er hatte hier in seinem Leben lediglich drei Wochen verbracht, doch es fühlte sich an wie die Rückkehr auf heimisches Terrain. Die Sonne war endgültig untergegangen, und Yves’ Brille lag jetzt auf dem Armaturenbrett. Er raste vor Wut. Er hatte es hier zu Ende bringen wollen. Heute Abend. An diesem Ort, an dem alles vor Jahren begonnen hatte. Er verstand nicht, wieso sie ihn anwiesen zu warten, doch ein guter Soldat gehorchte seinen Befehlen.
Er sah, wie Mackay in Begleitung eines Legionärs wieder die Treppe vom Verwaltungsgebäude herunterkam und erneut im Museum verschwand. Wenige Minuten später tauchte der Schotte alleine zwischen den Bäumen auf und ging zum Parkplatz zurück. Neben seinem Wagen blieb er stehen und blickte zu Yves herüber. Er wirkte erschöpft. Yves hatte keine Ahnung, weshalb er sich einen Anzug gekauft hatte, in dem er seltsam kostümiert aussah. Ihre Blicke trafen sich, und Yves sah, dass er für einen Moment schwankte, bevor Mackay plötzlich direkt auf ihn zukam.
Damit hatte er nicht gerechnet. Vielleicht fühlte sich der Schotte hier im grellen Flutlicht, in der unmittelbaren Nähe einer Garnison, in der mehrere hundert bewaffnete Soldaten arbeiteten, aßen und schliefen, sicher. Yves hätte sich nicht darum geschert. Ein einziger Schuss, den Fuß aufs Gas, und schon wäre er auf und davon gewesen. Soldaten wären herausgestürmt und hätten in einer Blutlache einen Toten neben seinem Wagen gefunden. Von Yves hätten sie allenfalls einen dunklen Wagen ausgemacht, der in der Nacht verschwand.
Er beugte sich vor und drehte den Zündschlüssel im Schloss. Mackay kam immer noch mit zielstrebigen Schritten auf ihn zu. Yves legte den Gang ein, ließ den Motor aufheulen und gab Vollgas, sodass die Reifen quietschten. Seine Ray-Ban flog vom Armaturenbrett. Mackay blieb stehen, erstarrt wie ein alter Hirsch im Scheinwerferlicht. Ein Kinderspiel, ihn jetzt einfach zu überfahren, durch die Luft zu schleudern und – um auf Nummer sicher zu gehen – im Rückwärtsgang noch einmal über die Leiche zu rollen. Er sah Angst und Todesgewissheit in Mackays Augen, bevor er das Lenkrad heftig nach rechts herumriss. Er verfehlte ihn nur um Zentimeter, hinterließ zweifellos Gummispuren auf dem Asphalt und raste schließlich durch das Tor in die Dunkelheit hinaus.
* * *
Enzo stand keuchend da, während das Aufheulen von Yves’ Wagen in der Nacht verhallte. Er wusste, wie knapp er gerade dem Tod entkommen war, und das ausgerechnet auf dem Parkplatz der Fremdenlegion. Offenbar war er nicht ganz bei Trost gewesen, als er versuchte, dem Löwen in der eigenen Höhle die Stirn zu bieten. Was hatte ihn nur geritten? Wie konnte er annehmen, vor einem Mann wie Yves Labrousse irgendwo sicher zu sein? Einem Profikiller, der sich mit Zähnen und Klauen dagegen wehrte, identifiziert zu werden. Ausgerechnet diesem Mann hatte er vor wenigen Sekunden die Gelegenheit gegeben, ihn umzubringen. Doch er hatte sie nicht genutzt. Wieso nicht? Spielte er mit Enzo Katz und Maus? Ließ ihn zappeln, um es auszukosten? Das bezweifelte Enzo. Dieser Mann war Profi. Er tötete für Geld, nicht zum Vergnügen. Und ihm lag alles daran, Enzo kaltzustellen. Weshalb also hatte er ihn verschont?
Enzo ging langsam zu seinem Wagen zurück und setzte sich ans Lenkrad. Er zitterte von Kopf bis Fuß, als würde er in der lauen Nacht frieren. Das Schlimmste von allem war das Unberechenbare. Nicht zu wissen, nicht zu verstehen, was vor sich ging.
Aber erst einmal musste er ein Hotelzimmer finden, in dem ihm eine lange schlaflose Nacht bevorstand.
Kapitel fünfzig
Kirsty saß da und starrte in den Spiegel. Das schwache Licht der Nachttischlampe reichte kaum bis zur Frisierkommode am anderen Ende des Zimmers. Sie sah schrecklich aus. Vielleicht lag es ja nur an der schlechten Beleuchtung. Doch die dunklen Augenringe waren ebenso wenig zu übersehen wie ihre hohlen Wangen. Ihr Haar hatte irgendwie seinen Glanz verloren, und sie hatte es wie ihr Vater zu einem losen Pferdeschwanz zurückgekämmt. Nur dass Enzo nicht ihr Vater war. Egal, was in der Zwischenzeit passiert war, verfolgte sie der Gedanke immer noch.
Sie stand abrupt von ihrem Hocker auf
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