Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
und verwünschte sich selbst. Wie oft wollte sie das Ganze noch im Kopf abspulen? Wie einen Ohrwurm wurde sie die Worte, die sie zufällig mit angehört hatte, nicht mehr los.
Sie verließ ihr Zimmer, und die alten Dielenbretter im Flur des Obergeschosses knarrten unter ihren Füßen. Als sie die Wendeltreppe hinunterging, hörte sie leises Murmeln vom Fernseher im Wohnzimmer. Stimmen, Lachen. Es schien eine Ewigkeit her, seit sie das letzte Mal gelacht hatte. Als sie in den Raum trat, wurde es still. Sophie, Bertrand und Nicole sahen sie beinahe schuldbewusst an.
«Wie geht es Roger?», fragte Nicole.
«Er ist nicht mehr auf der Intensivstation. Die Ärzte sagen, es wird eine Weile dauern, aber sie gehen von einer vollständigen Genesung aus.»
«Was lässt du dann den Kopf noch hängen!» Die Worte drückten klar aus, dass Sophie die Geduld mit ihr verlor. Und vermutlich trug sie ihr auch nach, wie sie Enzo behandelt hatte. Schließlich war er ihr Vater. Ihr leiblicher Vater, und Kirsty wusste, dass sie ihn vorbehaltlos liebte. Offenbar liebte jeder Enzo, sie selbst eingeschlossen. Doch sie war die Einzige, die nicht wusste, wie sie es ihm zeigen sollte.
«Seit Tagen läufst du mit dieser Leichenbittermiene herum», setzte Sophie nach. «Du bist nicht die Einzige, die von der ganzen Sache betroffen ist. Wir hängen da alle mit drin.»
«Vielleicht hat Kirsty doch ein bisschen mehr durchzumachen als der Rest von Ihnen.» Alle drehten sich um, als sie Anna hörten, die gerade aus dem Computerzimmer kam. Sie drückte Kirsty mitfühlend am Arm – ein diskreter Hinweis auf ein gemeinsames Geheimnis und ihr unausgesprochenes Verständnis. «Ich kümmere mich mal ums Abendessen.» Und damit verschwand sie in der Küche.
«Ich helfe Ihnen.» Nicole sprang aus ihrem Sessel auf und eilte ihr hinterher. Falls eine Szene bevorstand, wollte sie nichts damit zu schaffen haben.
Doch Kirsty hegte nicht die Absicht, zu bleiben und sich mit Sophie einen Schlagabtausch zu liefern. «Ich schnappe mal ein bisschen frische Luft.» Sie nahm ihre Jacke und ihren Schal von der Garderobe und trat vors Haus. Doch kaum hatte sie die Tür hinter sich zugezogen, war ihr nicht danach zumute, allein im Dunkeln spazieren zu gehen. Sie blieb einfach auf der Eingangsterrasse stehen, lehnte sich auf das schmiedeeiserne Geländer und blickte über das mit Reif bedeckte Feld bis zur angestrahlten Kirche und zur Schule hinüber. Sie stützte den Kopf auf die gefalteten Hände und schloss die Augen.
An der Vergangenheit konnte sie nichts ändern; was geschehen war, konnte man nicht ungeschehen machen, auch wenn es ihr ganzes Leben auf den Kopf stellte. Doch Anna hatte ihr klargemacht, dass sie ihre Zukunft gestalten konnte. Und sie hatte recht. Geheimniskrämerei hatte keine Zukunft. Zwischen Menschen, die sich liebten, durfte es keine Geheimnisse geben. Sie dachte an ihre Mutter und an die Wahrheit, die sie Enzo jahrelang vorenthalten hatte. Und an Simon, daran, wie er zusammen mit Linda geschwiegen hatte. Ein hässliches, hinterhältiges Geheimnis, das ihre Beziehung am Ende nur zerstört hatte. Obwohl er ihr leiblicher Vater war, musste sie sich ehrlicherweise eingestehen, dass sie ihn im Grunde nicht besonders mochte.
Sie richtete sich auf und drückte die Hände gegen das kalte Metallgeländer. Dann atmete sie tief durch und fasste einen Entschluss. Sie konnte Enzo nicht länger anlügen. Sie musste ihm reinen Wein einschenken und ihm sagen, dass sie es wusste.
Kapitel einundfünfzig
Das Hotel lag in einem Gewerbegebiet im Osten von Aubagne – in einem weitläufigen, von Hügeln umgebenen Einkaufszentrum am Rande der Stadt. Bis Enzo gegessen und das Gelände erreicht hatte, war weit und breit kein Mensch mehr zu sehen. Im gelben Licht der Straßenlaternen schimmerten endlose Parkplätze, allesamt gähnend leer. Die Berge hoben sich dunkel vom sternenübersäten Himmel ab. Er sog den würzigen Duft der Mittelmeerpinien ein, die die Straßen säumten.
Bereits geschlossene Fastfood-Restaurants glitten vorbei, düstere, kastenförmige Wellblechläden mit blitzenden Neonschildern und dürftig beleuchteten Fenstern. Es folgte eine Reihe Autovertretungen, in denen die Karosserien im Scheinwerferlicht glänzten – Citroën, Renault, Peugeot, Mercedes. Nirgends war auch nur ein einziger Passant zu entdecken, kein einziges Fahrzeug fuhr auf den Straßen.
Ihm fiel ein Hinweisschild zum Palais des Congrès ins Auge, und er musste an
Weitere Kostenlose Bücher