Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Erkennungszeichen, die weiße Strähne, die von der linken Schläfe nach hinten verlief, immer noch deutlich hervor. Ihr Entschluss, keine Schwäche zu zeigen, schmolz dahin, und sie drängte sich durch den Ansturm der Menschen, warf sich ihm in die Arme. Er ließ seine Reisetasche fallen und umarmte sie, als gäbe es kein Morgen – was auf ihn mehr oder weniger zutraf.
Er fühlte ihr Schluchzen an seiner Brust und hielt sie fest, bis sie sich beruhigte. Als sie schließlich zurücktrat und sich die Tränen aus den Augen wischte, war der Bahnsteig vier fast menschenleer. Sie strich sich mit der Hand das lange Haar zurück, sodass ihr schönes markantes Gesicht zum Vorschein kam. Die dunklen Augen und vollen Lippen hatte sie von ihrer Mutter. Doch wie ihr Vater war sie hochgewachsen, mit breiten Schultern und langen Beinen. Als sie sprach, war ihre sonst so kräftige, selbstbewusste Stimme mit dem schottischen Akzent heiser und kaum mehr als ein Flüstern.
«Ich hab solche Angst.»
Er legte ihr die Hände auf die Schultern. «Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt, Kirsty. Nie im Leben.» Mit Schrecken durchfuhr ihn die Einsicht, dass sich «nie im Leben» für ihn nur noch auf wenige Monate beschränkte. Von da an würde sie auf sich gestellt sein.
Er nahm sie bei der Hand und ging mit ihr die Treppe zu dem langen Marmorgang hinunter, der zur Vorderseite des Bahnhofs führte. Jedes Mal, wenn ein Mann auf sie zukam, drückte sie seine Hand fester, und die Anspannung stand ihr ins aschfahle Gesicht geschrieben. Er legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie durch die Einkaufsarkaden zu einem Bahnhofsimbiss. Er war gut besucht. Vielleicht fühlte sie sich unter Menschen sicherer. Als sie an einem Fahrkartenschalter vorbeikamen, zogen sie den Blick der Frau hinter der Glasscheibe auf sich, als sei ihnen die Unsicherheit anzusehen. Sie setzten sich auf die Metallrohrstühle an einem Tisch in der Ecke, von wo aus sie einen guten Überblick hatten. Ein spindeldürres orientalisches Mädchen brachte ihnen Kaffee. Beim Betrachten eines riesigen Werbeplakats mit einem gerösteten Käsesandwich merkte er, dass er Hunger hatte. Seit der Übernachtung in Paris und der Wartezeit auf den ersten freien Platz in einem TGV hatte er nichts mehr gegessen. Doch es gab Wichtigeres.
Er musste die Stimme heben, um sich gegen den Lärm, der von den Säulen und Gewölben widerhallte, und die ständigen Lautsprecherdurchsagen durchzusetzen. «Was ist passiert?»
Und sie erzählte ihm alles. Von ihrem einwöchigen Dolmetscher-Engagement bei dem Italiener, von ihrer Enttäuschung über den Zweck seines Besuchs, wie das Wetter am Morgen der Pressekonferenz den Verkehr zum Erliegen gebracht hatte, weshalb sie vom Taxi aus Sylvie angerufen und gebeten hatte, für sie einzuspringen.
«Es ist schwer zu glauben», sagte Enzo schließlich, «dass der Anschlag dir gegolten haben soll und nicht dem Italiener. Der Mann muss jede Menge Feinde haben.»
«Die Polizei war sich ganz sicher. Die Bombe war unter dem Dolmetscherstuhl angebracht, auf dem normalerweise ich gesessen hätte. Auf dem ich hätte sitzen sollen. Nicht Sylvie.»
Sie schluckte schwer, und er nahm tröstend ihre Hand.
Lieber schien sie tot sein zu wollen, als länger ihre Schuldgefühle ertragen zu müssen. Enzo dachte einen Moment daran, wie er sich jetzt fühlen würde, wäre Kirsty rechtzeitig dort eingetroffen. Egal, welche Schrecken ihn selbst erwarteten, er wusste, dass er hier und jetzt sein Kind beschützen musste. Wenn nötig unter Einsatz seines Lebens.
Er sah seine Tochter eindringlich an. Sie war immer noch verstört; ihr Blick huschte nervös über die Menschen, die durch die Arkaden strömten. «Bist du noch mit Roger zusammen?»
Ihr Blick schoss in seine Richtung. «Und wenn?», fragte sie in unverkennbar verletztem Ton. «Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst, aber er hat mit der Sache hier nichts zu tun.»
Es lag ihm auf der Zunge, dass es allerdings völlig egal sei, ob er Raffin möge oder nicht, es passe ihm nur nicht, dass er mit Kirsty zusammen sei. Doch er hielt den Mund. «Weiß er, was passiert ist?»
Sie schüttelte den Kopf. Immerhin war es tröstlich für Enzo, dass sie sich zuerst an ihn gewandt hatte.
Er legte ein paar Münzen auf den Tisch und stand auf. «Komm. Am besten fahren wir zu deiner Wohnung, du packst ein paar Sachen und kommst mit mir nach Cahors. Da bist du erst mal in Sicherheit, und dann sehen wir
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