Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
weiter.»
Doch sie rührte sich nicht vom Fleck. «Ich war nicht mehr in der Wohnung, seit … seit es passiert ist. Ich hab gestern bei einer Freundin übernachtet.» Sie zögerte. «Ich hab Angst, nach Hause zu gehen.»
Er nickte und nahm sie bei der Hand. «Wir lassen das Taxi vor dem Eingang warten. Ich habe ein Hotel für uns gebucht, und morgen nehmen wir den ersten Zug nach Paris.»
Doch sie stand immer noch nicht auf. «Da ist noch etwas …»
Er sah sie fragend an. «Was?» Er setzte sich wieder hin.
«Als ich da gestern ankam, ich meine, in dem Moment, als die Bombe hochging, hat mich die Druckwelle glatt umgeworfen.» Erneut las er Fassungslosigkeit in ihrem Blick. «Da war dieser Mann, der mir aufgeholfen, mich irgendwie hochgezogen hat. Es sah fast so aus, als lächelte er. Ich meine, so als machte ihm das, was gerade passiert war, nicht das Geringste aus. Es herrschte Panik, die Leute schrien, überall war Rauch. Und der Kerl sieht mich nur an und sagt: ‹Sie haben Glück gehabt.›»
Enzo hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. Er sah sie mit forschendem Blick an. «Da hatte er ja wohl recht.»
«Aber es war irgendwie, als wüsste er, dass eigentlich ich da oben hätte sitzen müssen. Fragt sich, woher.»
«Das ist wie mit den Hunden im Film.»
Sie sah ihn verständnislos an. «Was willst du damit sagen?»
«Wenn sie im Fernsehen oder im Film nach einem Schnitt einen Hund zeigen, hat das Tier eigentlich keinen Ausdruck im Gesicht, aber als Zuschauer deuten wir ihn hinein, so wie er in den Zusammenhang passt. Gute Schauspieler wissen das, die können mit einem ausdruckslosen Gesicht tausend verschiedene Dinge sagen.»
«Dad, ich verstehe kein Wort.»
«Du hast recht. Woher sollte der Kerl wissen, dass eigentlich du da oben hättest sitzen sollen? Das wusstest nur du. Also hast du diese Erklärung in sein Verhalten hineininterpretiert.»
Doch seine Theorie überzeugte sie nicht, und sie schüttelte den Kopf. «Nein.» Sie holte tief Luft. «Die Sache ist nämlich die: Ich hab ihn gerade eben wiedergesehen.»
«Wo?»
«Hier. Im Bahnhof. Kurz bevor dein Zug eintraf.»
Ein Schauer blanker Angst überlief ihn. Der gleiche Schauer, der eine Viertelstunde vorher auch sie überlaufen hatte.
Kapitel neun
Als sie ankamen, war es bereits dunkel. Der Schnee war nass, doch im Licht der Straßenlaternen fiel er wie Daunenfedern in dichten, großen Flocken und blieb auf dem Boden liegen. Enzo bat den Fahrer, auf sie zu warten, und sah sich in alle Richtungen um, während Kirsty die Haustür aufschloss. Im Erdgeschoss befanden sich eine Bäckerei und ein Immobilienmakler. Ein paar Fenster der oberen Stockwerke hatten kleine Balkone mit schmiedeeisernem Geländer. Nebenan stand ein moderner Wohnblock, und auf der gegenüberliegenden Seite der Hauptstraße reihten sich einige exklusive Villen aneinander.
Hier also wohnte sein kleines Mädchen. Auf den Türschildern las er nur ausländische Namen. Bozovic, Marinelli, Boukara. Vielleicht waren alle Dolmetscher, so wie Kirsty. Auf dem Lieferwagen eines Elektrikers, der in der Rue Bernegger parkte, stand der Name Droeller-Scheer . Nichts an diesem Ort wirkte französisch; Enzo hätte sich genauso gut in einem anderen Land befinden können.
Er folgte seiner Tochter eine dunkle Steintreppe hinauf bis zu einem langen Flur mit Türen zu beiden Seiten. Sie knipste den Lichtschalter an, doch nichts geschah. «Es ist eine Zeitschaltung. Geht eigentlich von allein aus, manchmal funktioniert sie aber nicht.»
Er hielt sie am Arm fest und zog sein Schlüsselbund heraus. Daran hing eine Stiftlampe, ideal, um im Dunkeln Schlüssellöcher zu finden. «Ich geh vor.» Der dünne Lichtstrahl drang in die Dunkelheit vor ihnen.
«Es ist die letzte links.»
Er blieb an der Tür stehen, richtete die Taschenlampe auf das Schloss. Er war angespannt. «Hattest du in letzter Zeit einen Einbruch? Oder hast du den Schlüssel vergessen und die Tür selbst aufgebrochen?»
«Nein, wieso?»
«An dem Schloss hat sich jemand zu schaffen gemacht. Siehst du die Kratzer?»
Sie spähte auf das Schloss, das vom Licht der Lampe hart ausgeleuchtet wurde, und sah im matten Messing winzige Kratzer aufblitzen.
«Gib mir deinen Schlüssel.»
Sie reichte ihm das Schlüsselbund und sah zu, wie er aufschloss und die Tür sacht einen Spaltbreit öffnete. Wäre er allein gewesen, wäre er, da er sowieso bald sterben würde, vermutlich unbekümmert eingetreten, doch da er für Kirstys
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