Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
gesehen hatte. Die Türen schlossen sich erneut, und langsam trug der Fahrstuhl Enzo und Kirsty durch die alte Mühle nach oben. Zwischen ihnen herrschte betretenes Schweigen, und keiner von ihnen wusste, wie er es brechen sollte.
Schließlich fragte sie: «Was soll das heißen, du bist nicht mehr lange da?»
Er presste die Lippen zusammen. «Nichts.»
«So klang es aber nicht.»
«Nur eine Redensart.»
«Blödsinn.»
Er hob den Kopf und begegnete dem bohrenden Blick in ihren dunklen Augen. Vielleicht wäre es ihm gelungen, sein Geheimnis noch eine Weile vor ihr zu verbergen, wie ein schleichendes Gift, das im Körper erst spät seine Wirkung zeigt, doch er sah keinen Sinn mehr darin. Nicht lange, und sie würde es sowieso erfahren. Sie alle würden es erfahren. «Ich sterbe bald.»
Drei einfache Worte, die sich wie eine ätzende Substanz in Kirstys junges Leben fraßen. Noch nie war ihr der Gedanke gekommen, dass es ihn irgendwann nicht mehr geben würde. Und er hatte recht. Sie hatte ihre eigenen Probleme immer auf ihn projiziert. Wenn sie irgendwo gescheitert war, trug er die Schuld. Hatte sie mal etwas erreicht, war damit nur bewiesen, dass sie ihn nicht brauchte. Doch sie brauchte ihn. Sie hörte ihre eigene Stimme wie ein Flüstern im Dunkeln. «Woran …?»
«Leukämie. Der Arzt sagt, mir bleiben sechs Monate mit Chemotherapie. Aber das mache ich nicht.»
«Wieso nicht?»
«Es hat in meinem Leben viel Licht und Schatten gegeben, Kirsty. Auch Tragödien, sicher. Aber ich habe einige wundervolle Frauen geliebt. Ich habe zwei prächtige Töchter. Und ich war immer gesund. Ich werde mir nicht die letzten Monate durch eine Chemotherapie verderben.»
Der Fahrstuhl kam ruckartig zum Stehen, und die Türen gingen auf. Er drängte sich an seiner Tochter vorbei, eilte durch den Flur zu seinem Zimmer, damit sie seine Tränen nicht sah. Kurz vor der Tür holte sie ihn ein, packte ihn am Arm und zwang ihn, sie anzusehen.
Ihr Gesicht war gerötet und schimmerte nass. «Es tut mir leid, Dad. Es tut mir so leid.» Sie holte stockend Luft. «Du hast recht. Ich war völlig darauf fixiert, dir an allem die Schuld zu geben, dass mir der Gedanke, du könntest irgendwann nicht mehr da sein, nie in den Sinn gekommen ist.»
Er nahm sie in die Arme und zog sie an sich. Sein kleines Mädchen, verletzlich und schutzbedürftig.
Ihre Stimme klang an seiner Brust gedämpft. «Du hast mich gestern Abend gefragt, ob ich dir verziehen habe. Und ich hab nein gesagt. Aber das stimmte nicht. Erst jetzt, zum ersten Mal in meinem Leben, sehe ich … dass es gar nichts zu verzeihen gibt.» Ihr ganzer Körper bebte, als sie unter Schluchzen sagte: «Ich will nicht, dass du stirbst.»
Am anderen Ende des Flurs öffneten sich die Fahrstuhltüren, und Raffin trat in den Korridor. Aus der Ferne sah er zu, wie sich Vater und Tochter in den Armen hielten.
Kapitel vierzehn
Sie fuhren mit dem BMW, den Raffin geliehen hatte, in nordwestlicher Richtung aus der Stadt. Der Zubringer von der D263 führte auf die A4 nach Paris. Es ging an Schildern vorbei, auf denen Hagenau, Karlsruhe, Saarbrücken zu lesen war. Geisternamen aus einer deutschen Vergangenheit, die immer noch eine elsässische Landschaft prägte. Männer hatten hier gekämpft und ihr Leben gelassen, um eine bestimmte Flagge zu hissen oder ihre Steuern an einen anderen Staat zu entrichten.
Enzo saß zusammengesunken im Fond und ließ die eintönige Novemberlandschaft an sich vorüberziehen. Alles war grau, neblig, nass. Er würde keinen Frühling mehr erleben oder je wieder die Wärme der Sommersonne spüren. Hätte er sich die Zeit zum Sterben selbst aussuchen können, dann wäre seine Wahl bestimmt nicht auf den Winter gefallen. Kirsty saß, die Hände zwischen die Beine geklemmt, stumm auf dem Beifahrersitz. Was gab es noch zu sagen?
Etwa zwei Kilometer vor einer Mautstation trafen sie auf das Ende eines Staus, der sich offenbar bis zum gare de péage vor ihnen erstreckte. Raffin schaltete in den zweiten Gang herunter, und im Schneckentempo krochen sie durch die Wolken der Auspuffgase weiter.
Schließlich brach Raffin das Schweigen. Er drehte sich halb zu Enzo um. «Und wieso glaubst du, dieser ganze Mist richtet sich gegen dich?»
«Weil zu viele Dinge passiert sind, zwischen denen es nur eine einzige Verbindung gibt.»
«Nämlich dich?»
Enzo nickte. «Was sonst hat wohl ein Mordanschlag auf Kirsty mit dem Brand in Bertrands Fitnesscenter gemein? Oder ein Raubüberfall
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