Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Navarre, der Schwester des damaligen Königs François I. Für einen so berühmten Sohn von Cahors war es fast eine Beleidigung, einen so mickrigen kleinen Platz nach ihm zu benennen, den man im Vorbeifahren glatt übersehen konnte. Doch Enzos Hausarzt hatte seine Praxis an der nordöstlichen Ecke, in einem Gebäude, das er mit mehreren Anwälten teilte und zu dem man durch ein großes Bogentor gelangte.
An der Rezeption erfuhren sie, es sei gerade ein Patient bei Dr. Julliard und sie müssten ein Weilchen warten. Also setzten sich die zwei Polizeibeamten mit dem reichlich zerzaust aussehenden Enzo in das volle Wartezimmer und übersahen für gut zehn Minuten geflissentlich die unverhohlen neugierigen Blicke der wartenden Patienten.
Als die Sprechstundenhilfe sie endlich ins Arztzimmer führte, erhob sich Docteur Julliard erschrocken aus seinem Sessel. Ungläubig starrte er Enzo an. «Du liebe Güte, was ist denn mit Ihnen los?»
Commissaire Taillard beantwortete die Frage: «Monsieur Mackay steht im Verdacht, einen Mord begangen zu haben, der vor drei Tagen in der Stadt passiert ist.»
«Nein!» Julliard konnte seine Fassungslosigkeit nicht verbergen.
«Monsieur Mackay behauptet, zur Zeit des Mordes habe er einen Termin bei einem Onkologen gehabt, den Sie für ihn arrangiert hätten.»
Verständnislos blickte der Arzt Enzo an und schüttelte den Kopf. «Das verstehe ich nicht, Enzo.»
«Nach meinen Bluttests habe ich einen Brief von Ihnen bekommen, in dem Sie mich an einen Docteur Gilbert Dussuet überwiesen haben.»
«Ich fürchte, da liegt ein Irrtum vor. Ich hätte Ihnen nur geschrieben, wenn etwas nicht in Ordnung gewesen wäre.»
«Und das ist nicht der Fall?», fragte die Polizeichefin.
«Nein, alles wie immer im grünen Bereich.»
«Sie haben Monsieur Mackay also nicht an einen Onkologen überwiesen?»
«Ganz bestimmt nicht.»
Enzo starrte den Arzt an und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. In einem Atemzug war er von seinem Todesurteil begnadigt und zum Hauptverdächtigen in einem Mordfall geworden.
Offensichtlich gingen die Überlegungen Taillards in eine ähnliche Richtung. Sie verzog die Mundwinkel zu einem ironischen Lächeln. «Sehen Sie? Ihnen fehlt nichts, Monsieur Mackay. Sie sterben nicht. Sie wandern nur für den Rest Ihres Lebens hinter Gitter.»
Kapitel siebzehn
Guildford, England, Juli 1986
Richard überquerte den Parkplatz zum Arlington House. Das Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert, vor dessen schönen Ziegelsteingiebeln sich Blauregen rankte, stand im Schatten hoher, dichtbelaubter Bäume hinter manikürten Rasenflächen. Das Getöse des Verkehrs in der Portsmouth Road verebbte, als er die Eingangsstufen hochging.
Zuerst hatte sie es geleugnet und darauf beharrt, da liege irgendein Missverständnis vor. Doch als er ihr drohte, auf den Dachboden zu gehen und den Totenschein zu holen, hatte sie es ihm verboten. Er dürfe nie wieder dahinauf. Zutritt verboten. Und dann hatte sie sich einfach geweigert, weiter darüber zu sprechen. Er habe fürs Abitur zu büffeln und überhaupt Besseres mit seiner Zeit anzufangen.
Für sie war die Sache damit erledigt.
Für Richard dagegen war es erst der Anfang.
Er war auf sein Zimmer gegangen und hatte sich ohne die geringsten Emotionen zum letzten Mal umgesehen. In diesen vier Wänden hatte er den größten Teil seines Lebens zugebracht. Hier sammelte sich der ganze Krempel seiner Kindheit. Seine Spielzeugsoldaten, Poster, Bilder und Alben, sein altes Rugby-Trikot, das über der Stuhllehne hing. Seine Gitarre. So viele Dinge, die er nie vermissen würde.
Er nahm eine Sporttasche und packte Unterwäsche, ein paar T-Shirts, eine Jeans, Turnschuhe und ein Paar Sandalen hinein. Dann zog er seine gesamten Ersparnisse aus dem Umschlag, den er mit Tesafilm unter die Schreibtischschublade geklebt hatte, und stopfte das Geld in sein Portemonnaie. Leise nahm er seine Lieblingsjeansjacke vom Haken an der Tür, steckte den Pass in die Innentasche und öffnete den Riegel am Fenster.
Im Dunkeln ließ er sich in den kleinen eingefriedeten Garten hinabfallen, der durch ein Rundbogentor auf die schmale Straße hinausführte. Einen Moment kauerte er reglos am Boden und horchte auf das Zirpen der Zikaden. Der Duft von Bougainvilleen, von Pinien und Meer lag in der Abendluft. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, blickte er die fünfzehn Meter tiefe Klippe hinunter zu den Wellen, die sich an den glänzend schwarzen Felsen
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