Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
zwei der in Raffins Buch behandelten Mordfälle geholfen. Was der kräftig gebauten jungen Frau vom Land an gesellschaftlichem Schliff abging, machte sie mit ihrem Verstand reichlich wett. Ihr langes glattes Haar, das ihr fast bis zu den breiten Hüften reichte, hatte sie streng aus dem hübschen runden Gesicht gekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Missbilligend runzelte sie die Stirn. «Offenbar kann ich Sie keine Minute aus den Augen lassen.»
Enzo blickte an Nicole vorbei und sah Bertrand an der offenen Tür stehen, hinter ihm uniformierte Wächter. In den Augen des jungen Mannes glaubte er, Verzweiflung zu erkennen. Irgendetwas an ihm sah anders, ungewohnt aus, und einen Moment später fiel der Groschen: Die Piercings an Nase und Augenbraue waren verschwunden. Ohne den Schmuck wirkte sein Gesicht seltsam nackt. Auch die stachlige Igelfrisur, zu der er sonst das Haar hochgelte, war nicht mehr da. Stattdessen hatte er es schlicht aus der blassen Stirn gekämmt. Er sah älter aus, als sähe er sich angesichts der Tragödie, die ihn getroffen hatte, gezwungen, sich endgültig von seiner Jugend zu verabschieden.
Enzo reichte ihm die Hand, und der Junge schüttelte sie fest. «Irgendwas Neues wegen des Fitnesscenters?»
Bertrand verzog das Gesicht. «Das ist endgültig hinüber. Der Leiter der Feuerwehr sagt, es war Brandstiftung. Offenbar war ein Brandbeschleuniger im Spiel.» Viele Jahre harten Studierens und Arbeitens waren vernichtet, in einer einzigen Nacht in Flammen aufgegangen.
«Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut.»
«Wieso? Ist ja nicht Ihre Schuld.»
«Ich fühle mich trotzdem verantwortlich.»
Doch davon wollte Bertrand nichts hören. «Aber nein. Was ich verloren habe, kann ich wieder aufbauen.» Er warf Kirsty einen Blick zu. «Sie hätten beinahe eine Tochter verloren.» Kirsty griff nach seinem Arm. Die Verbundenheit zwischen ihnen war offensichtlich. Wenn einem jemand das Leben rettet, vergisst man ihm das nie, und umgekehrt fühlt sich, so merkwürdig es ist, der Lebensretter ein Leben lang verantwortlich für den Geretteten. Auch mit Sophie war Bertrand tief verbunden, aber sie waren ein Liebespaar, und während eine solche Beziehung theoretisch irgendwann einmal in die Brüche gehen konnte, würde die Verbindung zu Kirsty ein Leben lang halten.
«Der Jugendclub», erzählte Sophie, «hat ihm angeboten, vorübergehend bei ihnen weiterzumachen, und die Bank hat ihm einen Überbrückungskredit für die Neuausstattung zugesagt, bis die Versicherung zahlt.»
Bertrand zuckte tapfer die Achseln. «Jetzt bleibt nur noch das Problem, wie ich die Raten zahlen soll.»
Draußen im Flur wurde eine Metalltür zugeschlagen, dann ertönten Stimmen, und ein Mann erschien hinter Bertrand. Er trug einen Anzug und hatte das schüttere Haar aus dem bärtigen Gesicht zurückgekämmt. So selten hatte Enzo seinen Freund Simon im Anzug gesehen, dass er ihn kaum wiedererkannte.
«Onkel Sy!» Sophie warf sich ihm mit der unbändigen Freude eines Kindes in die Arme. Nur dass er gar nicht ihr richtiger Onkel war. Kirsty schüttelte ihm seltsam förmlich die Hand und küsste ihn auf beide Wangen. Schließlich wandte sich Simon seinem ältesten Freund zu. Er lächelte nicht.
«Wie kommt es, dass sie hier jeden reinlassen?»
«Ich hab einen gewissen Einfluss bei der Chefin.»
«Aber wohl nicht genug, damit sie dich rauslassen?»
«Nein, dafür reicht es nicht ganz.»
Simon warf Kirsty einen Blick zu. «Nun, dann wollen wir mal sehen, was wir tun können, um deinen Dad hier rauszuholen.» Er trat vor, und die beiden Männer sahen sich an. Im Alter von fünf Jahren waren sie zusammen eingeschult worden. Als Jugendliche hatten sie jahrelang zusammen in einer Band gespielt. Und nun standen sie einander in einer Polizeizelle gegenüber, einer von ihnen als Mordverdächtiger, der andere als sein Anwalt. Der Anruf bei Simon in London war der einzige, der Enzo gestattet worden war. Auch wenn der Brite in Frankreich nicht anwaltlich tätig werden durfte, verfügte er hier in Juristenkreisen über Beziehungen zu einflussreichen Leuten.
Enzo wollte ihn spontan umarmen, doch Simon kam ihm mit einem förmlichen Handschlag zuvor. «Wir beschaffen dir den besten Anwalt im Südwesten. Ich habe bereits mit einigen Leuten in Toulouse gesprochen.» Er wirkte ungewöhnlich distanziert, kühl und professionell. «Wir haben eine halbe Stunde für das Gespräch. Du setzt mich ins Bild, ich gebe die
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