Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
ihn skeptisch an.
«Ja.»
«Der mit Datum und Uhrzeit deines Termins beim Onkologen?»
«Ja.»
«Wie praktisch …»
«Das ist alles andere als praktisch. Vielleicht haben Sophie oder Kirsty ihn an sich genommen.»
Enzos Wangen glühten. «Hör mal, was hältst du davon, wenn wir einfach eine Station überspringen und du mit mir zu dem Onkologen fährst? Dann ist die Sache ein für alle Mal aus der Welt.»
Sie seufzte genervt auf, als würde ihr gleich der Geduldsfaden reißen. «Weshalb musstest du eigentlich hin?»
Enzo sah zu Boden. Nur Kirsty und Roger kannten die Wahrheit. Er sprach nicht gern darüber, denn jedes Mal, wenn er gezwungen war, die Diagnose beim Namen zu nennen, wurde ihm die Unausweichlichkeit nur noch deutlicher vor Augen geführt. «Ich habe Krebs im Endstadium», sagte er. Und blickte, als er den Kopf hob, in ihr schockiertes Gesicht.
* * *
Bei Sonnenschein sah die Rue des Trois Baudus völlig anders aus. Enzo hatte sie als einen düsteren Ort in Erinnerung, jetzt aber brachte das helle Licht, das zwischen die Gebäude drang, die Farben der Ziegelwände und bunt gestrichenen Fensterläden zum Leuchten. Sie waren vom Place de la Libération, auf dem der Fahrer das Polizeiauto abgestellt hatte, zu Fuß die Rue du Château du Roi heraufgegangen. Der Verkäufer im Musikgeschäft hatte ihm zugewinkt, doch als er die Handschellen sah, war sein ausgestreckter Arm plötzlich in der Luft erstarrt. Das Gebäude am Ende der Rue des Trois Baudus, wo die Gasse rechtwinklig nach links abknickte und in die Rue du Portail mündete, war sonnenüberflutet. Selbst die Graffiti in Schwarz und Violett schienen nun eher dekorativ als hässlich.
Vor der hellen Eichentür von Nummer 24 a blieben sie stehen. Die Läden des linken Fensters waren immer noch geschlossen, doch das Praxisschild des Onkologen war verschwunden, und nur vier kleine Bohrlöcher in der Wand zeugten noch von seiner Existenz. Enzo starrte verwirrt auf die leere Stelle. Der Briefkasten rechts von der Tür quoll von Werbung über.
«Ist es hier?» Langsam stieß Taillard an die Grenzen ihrer Geduld.
Enzo bemühte sich, ruhig zu bleiben. «Ja. Genau hier hing ein Praxisschild an der Wand. Der Arzt hieß Gilbert Dussuet. Und unter dem Klingelknopf war ein kleineres Schild, auf dem Bitte klingeln und eintreten stand.» Doch auch das war nicht mehr da. Commissaire Taillard drückte auf die Klingel, aber es blieb still.
«Scheint schon länger nicht mehr zu funktionieren», sagte sie.
Enzo hob die gefesselten Hände und schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Drinnen rührte sich nichts. «Ich sage die Wahrheit!» Er drehte sich zu ihr um. «Hier war ich an dem Morgen, an dem Audeline ermordet wurde. Hier hatte Docteur Dussuet seine Praxis.» Er zuckte hilflos die Achseln. «Er muss umgezogen sein.»
«Was soll der verdammte Lärm da unten?», meldete sich eine Stimme über ihnen. Sie rissen die Köpfe hoch und sahen eine ältere Frau, die sich im Haus gegenüber aus dem Fenster im Obergeschoss lehnte. Ihre Fensterläden standen weit geöffnet, trotzdem war sie so bleich, als hätte sie seit Monaten keinen Sonnenstrahl mehr gesehen.
«Polizei», sagte die Chefin. «Wer wohnt hier in Nummer 24 a?»
Die Frau sah mit einer Miene zu ihnen hinunter, als wären sie nicht ganz dicht. «Niemand. Das steht schon seit Jahren leer.»
«Hier war doch eine Arztpraxis», rief Enzo zu ihr hoch. «Von einem gewissen Dr. Dussuet.»
«Nein.» Die alte Frau schüttelte den Kopf. «Seit ich hier wohne, war da noch nie ein Arzt. Und ich bin in dem Haus hier geboren.»
Enzo hatte das Gefühl, als täte sich der Boden unter ihm auf. Die Gewissheit, die ihm bisher die Kraft gegeben hatte, nicht aufzugeben, wich völliger Ratlosigkeit. Als er sich umdrehte, begegnete er dem kalten Blick seiner verhinderten Geliebten. Ihr Handy klingelte, und sie hielt es ans Ohr.
«Commissaire Taillard …» Sie hörte lange schweigend zu. «Besten Dank», sagte sie schließlich und legte auf. Dabei ließ sie Enzo keinen Moment aus den Augen. «Sieh an, sieh an … Offenbar stimmt die Haarprobe, die wir gestern bei Ihnen genommen haben, mit den Haaren am Tatort überein.» Sie verzog das Gesicht zu einem Ausdruck, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie längst nicht mehr bereit war, ihm auch nur ein Wort zu glauben. «Und was schlagen Sie als Nächstes vor?»
* * *
Clément Marot war ein Dichter aus dem fünfzehnten Jahrhundert, ein Günstling von Marguerite de
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