Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Frage ist also durchaus relevant.»
Enzo schloss die Augen. Den Kopf voll eigener Sorgen und Probleme, hatte er nur zu leicht vergessen, dass eine Frau, die er sehr gemocht hatte, ermordet worden war. Und zwar höchstwahrscheinlich seinetwegen. Er machte die Augen wieder auf, um die unangenehmen Bilder zu verbannen, die ihn im Dunkeln bestürmten.
Taillard sah ihn unverwandt an. «Ihre E-Mails waren ziemlich eindeutig.»
Also hatte Hélène ihren E-Mail-Verkehr gelesen. Zu seinem Verdruss errötete Enzo erneut. Er hätte wissen müssen, dass er seine Gefühle besser nicht schriftlich offenbarte, doch manchmal siegte der leidenschaftliche Italiener in ihm über den verschlossenen Schotten.
«Nein», sagte er.
«Nein, was?»
«Nein, wir hatten keine sexuelle Beziehung.»
Nach wie vor gab das Gesicht der Polizeichefin keinerlei Emotionen preis, doch er registrierte, dass sie im Gegensatz zu ihm auffällig blass geworden war.
«Zu welchem Zweck», fuhr sie fort, «haben Sie die Frau an dem Morgen, an dem sie ermordet wurde, besucht?»
«Ich war nicht in ihrer Wohnung.»
«Dem Terminkalender auf ihrem Computer nach waren Sie um elf Uhr bei ihr verabredet.»
«Da muss ich passen. Ich war nicht da.»
«Und wo waren Sie dann?»
Er zögerte. «Ich hatte einen Termin bei einem Onkologen.»
Sie runzelte die Stirn. «Einem Onkologen?»
«Einem Krebsspezialisten.»
«Ich weiß, was ein Onkologe ist!» Sie verkniff sich die naheliegende Frage und sagte stattdessen: «Wo?»
«Hier in Cahors.»
«Und dieser Arzt kann das gewiss bezeugen?»
«Selbstverständlich.»
Sie schien hin- und hergerissen, als wollte sie ihm glauben, andererseits auch wieder nicht. «Sie sollten wissen, dass wir die Haarprobe, die wir gestern bei Ihrer Ankunft genommen haben, zum Abgleich mit mehreren langen schwarzen Haaren, die an der Kleidung der Toten gefunden wurden, nach Toulouse geschickt haben.»
Enzo zuckte die Achseln. «Schön. Aber sie werden nicht übereinstimmen.» Plötzlich zog er seinen Stuhl näher heran, sodass er ihr unmittelbar gegenübersaß, und beugte sich mit ernster Miene vor. «Hör zu, Hélène, ich habe ein wasserdichtes Alibi. Eine schriftlich dokumentierte Spur, die von meinem Hausarzt bis zu dem Onkologen führt. Wie wäre es, wenn wir ihr einfach folgen und diesem ganzen Unsinn hier ein Ende setzen?»
* * *
Es tat gut, wieder den blauen Himmel über sich zu sehen, frische Luft zu atmen, auch wenn es nur für eine kurze Weile war. Der Streifenwagen hielt vor Enzos Wohnung, und ein Beamter in Uniform half ihm vom Rücksitz. Man hatte ihm die Hände vor dem Bauch in Handschellen gelegt, und kurz erhaschte er einen Blick auf sein Spiegelbild im Fenster des Restaurants Lampara. Da man ihm das Haarband weggenommen hatte – aus Angst, er könnte sich damit erdrosseln, was mehr als abwegig erschien –, hingen ihm die Haare in Strähnen auf die Schultern. Seit zwei Tagen hatte er sich nicht rasiert, und seine Jacke war immer noch schmutzig von der Verhaftung, als man ihn gezwungen hatte, sich auf die nasse Straße zu legen.
Er sah, wie sich Leute, die er kannte – Ladenbesitzer, Nachbarn, Stammgäste im Restaurant –, umdrehten und mit einer Mischung aus Schock und Neugier zusahen, wie er von einem Beamten in Uniform zu seiner Haustür geführt wurde. Commissaire Taillard folgte mit etwas steifen Schritten. Eine vorbildliche Hüterin der öffentlichen Ordnung bei der Ausübung ihrer Pflicht.
Im ersten Stock klingelte sie an der Tür und wartete. Drinnen rührte sich nichts. Sie sah Enzo an, als könnte er erklären, wieso niemand zu Hause sei, doch er zuckte nur die Achseln, und so nahm sie seine Schlüssel und machte auf.
Vom Flur aus sah Enzo durch die offene Tür des Gästezimmers Kirstys Gepäck auf dem ungemachten Bett. Raffins elegante Reisetasche aus weichem Leder stand auf der Kommode. Demnach teilten sie sich ein Bett.
Im Wohnzimmer war er mit wenigen Schritten am Schreibtisch und kramte in seinen Papieren. Er hatte den Brief mit dem Arzttermin in einen Ablagekorb geworfen, in dem er alle Dokumente sammelte, bevor er sie wegsortierte. Er hatte keine Ahnung gehabt, wo er ihn abheften sollte oder ob er es überhaupt je tun würde. Doch das Schreiben war nicht da. Es hätte zuoberst auf dem Stapel liegen müssen. Er nahm den ganzen unsortierten Stoß an Rechnungen und Briefen und ging ihn mit einem Gefühl wachsender Unruhe durch.
«Er ist weg.»
«Der Brief von deinem Hausarzt?» Taillard sah
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