Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
brachen. Das Meer glich einem lebendigen Wesen. Sein Meer. Er hörte es atmen. Es war das Einzige, was er vermissen würde.
Die Frau hinter dem Schreibtisch im Büro lächelte ihm entgegen. Er sagte, er hätte angerufen und käme wegen des Totenscheins seines Bruders. Sie erinnerte sich an ihn, und er war erstaunt, wie bereitwillig sie ihm glaubte. Auch wenn er in diesem Land geboren war, hatte er, seit er denken konnte, in Frankreich gelebt. Er sprach Französisch mit einem südlichen Akzent, hörte Francis Cabrel und Serge Gainsbourg, schwärmte für France Gall. Und doch war sein Englisch so überzeugend, dass diese Frau ihn für einen Engländer hielt. Vielleicht sah er sogar wie ein Engländer aus. Wieder ein kleines Stück, das von seinem bisherigen Selbstbild abplatzte.
Sie holte das frisch ausgedruckte Dokument hervor und unterzeichnete es, während er ihr die fremden Geldscheine und Münzen hinschob, die er in einer Londoner Wechselstube gegen seine Francs getauscht hatte, bevor er in den Zug nach Surrey gestiegen war. Er betrachtete die Urkunde, und wieder war es, als würden sich eisige Finger um seinen Nacken schließen, als er seinen Namen darauf sah. «Könnte ich das Original einsehen?»
«Leider nicht. Die Originale werden in unseren Tresorräumen aufbewahrt und sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.»
Anscheinend spürte sie seinen Verlust, denn sie warf noch einmal einen Blick auf den Totenschein, den sie ihm ausgehändigt hatte. «Er ist früh gestorben, fast noch als Baby.»
«Ja. Er hatte keine Chance, erwachsen zu werden.»
Sie sah ihn an und lächelte ihm noch einmal zu. «Vielleicht wäre er ein bisschen wie Sie geworden.»
Richard sah sie an und merkte, wie er rot wurde. «Nein!» Sein Protest fiel allzu heftig aus. «Er hätte nicht die geringste Ähnlichkeit mit mir gehabt!»
* * *
Der Verkehr der angrenzenden Straße war hinter den Mauern des Friedhofs nur noch als fernes Rauschen zu hören. Richard saß im Gras neben einem kleinen, verwitterten, mit Moos bewachsenen Grabstein und zog langsam mit den Fingern die Umrisse seines Namens nach. Wie viele Menschen hatten wohl Gelegenheit, ihr eigenes Grab zu besuchen? Die Erfahrung hinterließ eine seltsam schmerzhafte Leere in seinem Kopf. Heiß liefen ihm Tränen die Wangen hinunter.
Falls Richard wirklich tot war – wer war er dann?
Kapitel achtzehn
Cahors, November 2008
Enzo kam sich richtig dämlich vor, es war ihm geradezu peinlich. Er würde also doch nicht sterben, in den nächsten drei Monaten jedenfalls nicht. Soweit es in seiner Macht stand. Seit dem Besuch bei dem falschen Onkologen hatte er sich in Depressionen und Selbstmitleid gesuhlt. Dabei hatte er allerdings etwas sehr Wertvolles gelernt: Das Leben war zum Leben da, man musste es genießen. Bis auf den letzten kostbaren Tropfen.
Er umarmte seine beiden Töchter, als wollte er sie ewig so halten. Von Sophies Tränen bekam er ein nasses Hemd. Zwar hatte sie nur einen einzigen Tag mit der Neuigkeit vom bevorstehenden Tod ihres Vaters leben müssen, doch dieser Tag war ihr wie eine Ewigkeit erschienen. Sie hatte sich die Augen ausgeheult, bis sie nur noch brannten. Jetzt weinte sie wieder, aber vor Erleichterung.
Und Kirsty. Er löste sich aus der Umarmung, um sie anzusehen. Die scheinbare Nähe des Todes hatte sie beide etwas über sich selbst gelehrt, hatte sie gezwungen, sich mit dem anderen auseinanderzusetzen und sich schließlich mit ihm zu versöhnen: Es gab keine Vergangenheit, keine Geschichte. Heute war der erste Tag vom Rest ihres Lebens, das sie am besten in der Gegenwart verbrachten, im Hier und Jetzt.
Unglücklicherweise stand Enzo hier und jetzt immer noch unter Mordverdacht, und der große Unbekannte, der sich alle Mühe gab, sein Leben zu zerstören, lief immer noch frei herum und war zu Gott weiß was fähig.
Seine winzige Zelle schien überfüllt mit Menschen. Er wusste kaum, wer sie alle waren. Nicole schob sich zwischen den Halbschwestern hindurch und drückte ihren Lehrer und Mentor ungestüm an ihren üppigen Busen.
«Sollten Sie nicht in der Uni sein?», fragte er.
Sie legte den Kopf schief. «Da sind Seminare ausgefallen, Monsieur Mackay. Offenbar wurde unser Professor wegen irgendeines an den Haaren herbeigezogenen Mordverdachts verhaftet. Und er wird vermutlich meine Hilfe brauchen, um den Fall zu lösen, so wie immer.»
Sein Lächeln kam von Herzen. Sie war seine beste Studentin und hatte ihm bereits bei der Lösung von
Weitere Kostenlose Bücher