Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
blassen Mondlicht und stellte fest, wie der kalte, farblose Schimmer sie älter erscheinen ließ, wie ihre Augen im Schatten eingesunken wirkten. «Du hast mir überhaupt noch so gut wie gar nichts erzählt.»
Sie verzog den Mund zur Andeutung eines Grinsens. «So bin ich geheimnisvoller. Das erhöht die Faszination.»
«Du fährst im Winter Ski und gehst im Sommer tauchen. Einmal hast du für dein Land an den Olympischen Spielen teilgenommen. Deine Eltern wohnen in Straßburg. Das ist praktisch alles, was ich von dir weiß.»
«Was willst du denn wissen?»
«Keine Ahnung. Bist du da aufgewachsen? In Straßburg?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein. Meine Mutter stammt von dort. Aber sie sind erst hingezogen, als mein Vater in den Ruhestand ging. Ich bin in Lyon aufgewachsen.» Sie legte den Kopf schief, als sie sah, wie er sie betrachtete. «War es wirklich das, was du wissen wolltest?»
«An dem Abend, an dem wir uns kennengelernt haben, hast du gesagt, du hättest nie damit gerechnet, mit vierzig allein zu sein.»
«Wer rechnet schon damit?»
«Wieso lebst du allein, Anna? Du bist eine attraktive Frau. Du hast noch einen großen Teil deines Lebens vor dir.»
Sie kehrte den Blick wieder der Decke zu und kniff die Lippen zusammen, als hätte sie Angst, es könnte ihr etwas herausrutschen, das sie hinterher bereute. So verharrte sie lange und schweigend. Als sie ihm schließlich antwortete, sprach sie sehr leise, fast im Flüsterton. «Manchmal blickt man auf sein Leben zurück und wünscht sich, man hätte andere Entscheidungen getroffen. Du weißt schon, die großen Entscheidungen. Karriere oder Privatleben. Dieser Mann oder ein anderer. Und dann die kleinen Dinge, die manchmal noch größere Konsequenzen haben. Man sagt zum Beispiel: Ich habe keine Zeit zum Einkaufen, die Wäsche ist noch nicht fertig. Fahrt schon mal vor, sonst sind die Läden zu. Hätte man das nicht gesagt, wären sie vielleicht noch am Leben. Oder man wäre mit ihnen gestorben, aber dann wäre es auch egal.»
Enzo sah, wie in ihrem Augenwinkel eine Träne im Mondlicht glitzerte. «Wer?»
«Mein Mann. Mein kleiner Junge.»
Er sprach sehr leise. «Wie ist es passiert?»
Sie wischte sich die Träne aus dem Gesicht. «Autounfall. Man liest jeden Tag davon und denkt nie daran, was die Hinterbliebenen durchmachen. Und dass es nie vorbei ist. Fast alles kann man ersetzen, außer Menschen.»
Enzo schloss die Augen und empfand ihren Schmerz nach. «Ich weiß.»
Doch sie war so in ihre Erinnerungen vertieft, dass sie seine Anteilnahme nicht registrierte. «Ich war fest entschlossen, keine Kinder zu bekommen, bis meine Karriere vorbei ist. Für einen Neustart wäre es zu spät gewesen. Ich habe André nur geheiratet, weil ich von ihm schwanger wurde. Aber irgendwie habe ich ihn auch geliebt. Weil ich wusste, dass er mich liebt.» Ihr Atem schien zu zittern, als sie tief Luft holte. «Aber das ist vorbei. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Es ungeschehen machen. Nichts davon.»
«Du bist noch nicht zu alt, du kannst immer noch Kinder bekommen.»
«Medizinisch betrachtet, vielleicht. Aber im Kopf gab es für mich die eine Gelegenheit, und die ist unwiderruflich vorbei.»
Sie drehte sich zu ihm um und zwang sich zu einem Lächeln. «Wetten, du wünschst dir, du hättest nie gefragt? Geheimnisvolle Faszination ist immer interessanter als eine Tragödie.»
Er legte ihr die Hand auf die Wange. «Das tut mir leid, Anna.»
«Gott, können wir bitte das Thema wechseln? Sonst bekommen wir beide diese Nacht keinen Schlaf.»
«Sicher. Worüber möchtest du sprechen?»
«Lass mich nachdenken.» Sie rollte übertrieben mit den Augen, als suchte sie krampfhaft nach einem Thema. «Wie bist du eigentlich an diesen Widerling Raffin geraten?»
Enzo war verblüfft. «Du magst ihn nicht?»
«Überhaupt nicht.»
«Aber beim Abendessen habt ihr beide euch doch prächtig verstanden.»
«Reine Höflichkeit. Bei dem Kerl ist alles aufgesetzt, und ich hab schon ein paar Jahresringe zu viel, um auf so ein Gesülze noch reinzufallen. Was in aller Welt findet Kirsty an dem Mann?»
Sie sprach aus, was er selbst wenige Stunden zuvor fast wortwörtlich gedacht hatte. «Wenn ich das nur wüsste.»
«Wenigstens nimmst du ihn nach Paris mit, und ich bin ihn erst mal los.» Sie überlegte einen Moment. «Wann fahrt ihr?»
«Gleich morgen früh.»
Sie drehte sich zu ihm um, sodass ihr Gesicht halb im Licht des Vollmonds, halb im Schatten lag. «Das ist nicht
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