Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
dein Ernst. Ihr seid doch gerade erst angekommen.»
«Mein Leben ist auf Eis gelegt, Anna, bis ich mich dieser Sache stelle. Wenn jemand versucht, alles kaputtzumachen, was dir lieb und teuer ist, dann bleibt dir nichts anderes übrig, als ihn zu erwischen. Bevor er dich erwischt.»
Sie sah ihn nachdenklich an. «Ich dachte, ich hätte mehr Zeit mit dir. Wann kommst du wieder?»
«Das weiß ich nicht.»
Sie glitt mit der kühlen Hand unter die Decke und tastete zu der weichen, warmen Stelle zwischen seinen Beinen. Die Reaktion auf ihre Berührung blieb nicht aus. «Dann sollten wir das vielleicht einfach noch einmal tun. Und in der Erinnerung schwelgen, bis wir uns wiedersehen.»
Diesmal würde er sie, das wusste er, so lieben, wie er es sich beim ersten Mal vorgenommen hatte – ganz langsam, sodass sich die Wärme die kalte Nacht hindurch hielt.
[zur Inhaltsübersicht]
Teil drei
Kapitel sechsundzwanzig
Seit einige Monate zuvor das Rauchverbot in Kraft getreten war, flüchteten sich in Paris die hartgesottenen Tabaksüchtigen auf die Bürgersteige vor den Cafés, wo sie fröstelnd in Hut und Mantel unter den Markisen saßen, um zu einer Tasse Kaffee ihre Gauloises zu qualmen. Enzo und Raffin trafen sich mit dem pensionierten Commissaire Jean-Marie Martinot an seinem gewohnten Tisch vor dem Café Maury in der Rue La Fayette, nicht weit vom Gare de l’Est. In seinem Mundwinkel glomm eine selbstgedrehte Zigarette. Vor ihm stand ein Glas Rotwein, und er war in die Morgenausgabe des France Soir vertieft.
Als sie sich Stühle heranzogen, um ihm Gesellschaft zu leisten, ließ er die Zeitung sinken. «Ah, Monsieur Raffin.» Er streckte ihm die Hand hin. «Wie geht es Ihnen?»
«Danke, gut, Monsieur Martinot. Das ist der Herr, über den ich mit Ihnen am Telefon gesprochen habe. Monsieur Mackay.»
Martinot schüttelte Enzo die Hand. «Hocherfreut, Monsieur. Ihnen eilt ein Ruf voraus.»
«Ein guter oder ein schlechter?»
Der pensionierte Polizist lachte leise. Dann verflog das Lächeln. «Sie trauen sich also zu, den Fall Lambert zu knacken?»
«Nur mit Ihrer Hilfe.»
«Ich habe mich zehn Jahre damit auseinandergesetzt, bevor ich die Waffen gestreckt habe. Hasse es, mich geschlagen zu geben, Monsieur. Doch da winkte schon der Ruhestand, und es wurde Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen.» Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und drückte sie im Aschenbecher aus. «Wurmt einen trotzdem noch irgendwie.» Während ihm der Qualm aus den Mundwinkeln entwich, leerte er sein Glas. «Sie können mir ein zweites spendieren, wenn Sie möchten.»
Sein volles weißes Haar war über der hohen Stirn und den ungewöhnlich blauen Augen streng nach hinten gekämmt. Er war ein hochgewachsener, kräftiger Mann, mittlerweile jedoch vom Alter gebeugt. Früher vermutlich einmal ein harter Mann, dachte Enzo. Ein tougher Typ, der auch mal zupackt. Doch gleichzeitig hatte er etwas Sanftmütiges an sich, etwas Vergeistigtes, eine Menschlichkeit, die er sich in all den Jahren bei der Polizei bewahrt hatte. Seinen schweren, dunkelblauen Mantel hatte er fast bis unters Kinn zugeknöpft, und auf dem Stuhl neben ihm lag ein Filzhut mit breiter Krempe. Enzo registrierte, dass er Socken mit unterschiedlichen Mustern trug und dass seine Lederschuhe wohl schon lange ihren Glanz verloren hatten. Auf dem Mantel waren Essensflecken, und Enzo drängte sich der Eindruck auf, dass Jean-Marie Martinot entweder Witwer oder eingefleischter Junggeselle war. So oder so lebte der alte Polizist offensichtlich allein.
Enzo setzte sich und warf einen etwas besorgten Blick den Bürgersteig entlang. Auch wenn er sicher war, dass der Mörder nicht wissen konnte, wo er sich befand, fühlte er sich in den Straßen von Paris exponiert, angreifbar. Raffin bestellte drei Glas Wein und erhob die Stimme gegen den Verkehrslärm. «Und glauben Sie, dass Sie ihm helfen können?»
«Selbstverständlich. Was soll ich denn sonst mit meiner Zeit anfangen? Ich hab viel zu viel davon. Schade, dass man nichts davon abgeben kann. Da heißt es immer, wenn man älter wird, vergeht einem die Zeit schneller. Aber seit Paulette gestorben ist, fühlt sich jeder Tag wie ein Jahr an. Und die Nächte noch länger, besonders wenn man nicht schlafen kann. Santé.» Er erhob das Glas und nahm einen Schluck Wein. «Außerdem will ich sehen, wie Sie den Mistkerl schnappen. Die Geschichte verfolgt mich bis heute. Armer kleiner Pierre Lambert. Schon seltsam: Ich habe zwanzig Jahre
Weitere Kostenlose Bücher