Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Vergangenheit. Aber ich nehme mal an, dass die Polizei noch über das Beweismaterial verfügt?»
«Sicher in der Asservatenkammer verschlossen.» Martinot sah auf die Uhr und merkte, dass er seine Zigarette nicht angezündet hatte. Er beugte sich über ein brennendes Streichholz, bald legten sich Rauchkringel um seinen Kopf. Er sah auf. «Ich habe immer noch einen gewissen Einfluss am Quai des Orfèvres. In einer halben Stunde bekommen Sie alles zu sehen, was wir damals hatten.» Er trank seinen Wein aus. «Gerade genug Zeit für ein weiteres Gläschen.»
Kapitel siebenundzwanzig
Der Palais de Justice lag im westlichen Teil der Île de la Cité, zwischen dem Quai des Orfèvres und dem Quai de l’Horloge. Die Asservatenkammer befand sich in den Tiefen des Kellergeschosses. Enzo war schon einmal hier gewesen, als er in einer Kiste mit scheinbar zufällig zusammengewürfelten Gegenständen aus den Katakomben von Paris Hinweise entdeckt hatte, die ihn auf die Spur des verschollenen Jacques Gaillard brachten.
In einem weitläufigen, hohen Raum waren Metallregale, die bis unter die Decke reichten, mit Pappkartons vollgestopft. Jeder Karton hatte seine eigene Geschichte zu erzählen. Von Mord, Vergewaltigung, Diebstahl, tätlichem Angriff. Der ganze Bodensatz jahrzehntelanger Kriminalität. Beweismittel, die entlastet oder überführt hatten, Anklagen aufgehoben oder erhärtet hatten. Oder einfach nach wie vor ratlos machten.
Martinot öffnete die Tür zu einem kleinen Raum am Ende der Haupthalle, und Enzo stellte den Karton mit der Aufschrift Production No. 73982/M auf einen einfachen Metalltisch an der Rückwand. Der pensionierte Kommissar warf einen Blick auf das Etikett und erkannte seine eigene Unterschrift wieder. Er schmunzelte. «Ganze Weile her, seit ich so ein Ding abgezeichnet habe.»
Er hängte Mantel und Hut an den Garderobenständer neben der Tür. Sein Hemd war bis zum Kragen zugeknöpft, doch er trug keine Krawatte. Sein Jackett war nur mit einem Knopf geschlossen, die anderen beiden fehlten. Er öffnete den Karton. «Et voilà!»
In gespannter Erwartung warf Enzo einen ersten Blick hinein. Der Mörder hatte alles darangesetzt, genau das für immer zu verhindern. Dafür hatte er Menschen getötet oder ihr Leben ruiniert. Enzo wusste, dass irgendetwas in diesem Karton Licht in ein fast siebzehn Jahre altes Dunkel werfen würde. Jetzt lag es bei ihm, den Schalter zu finden.
Nacheinander zog er die Tüten mit den Beweismitteln heraus, die am Tatort, Lamberts damaliger Wohnung, gesichert worden waren: das Antihistamin, nunmehr wieder in der Flasche. Scherben des Wasserglases, die man im Spülbecken gefunden hatte. Die zerbrochene Kaffeetasse und Untertassen. Die zerschlagene Zuckerdose und Zuckerwürfel. Die in braunes Packpapier eingewickelte Kleidung des Opfers. Sein Hemd, ein Wollpullover, Sportschuhe, Jeans, Unterwäsche – die Größen ließen darauf schließen, dass Lambert ein schmächtiger Mann von unterdurchschnittlicher Größe gewesen war.
Dann nahm Enzo die eingetütete Kassette mit dem Telefonat auf dem Anrufbeantworter in die Hand. «Könnte ich davon eine Kopie bekommen?»
Martinot zuckte die Achseln. «Warum nicht.»
Enzo wandte sich wieder der Schatzkiste mit den Beweismitteln zu. Darunter war ein Karton mit Dokumenten. Die Polizeiakten von damals. Martinots zerfleddertes schwarzes Notizbuch. Der alte Polizist nahm es heraus und blätterte darin, in Nostalgie schwelgend. Ein handschriftliches Zeugnis eines anderen Mannes aus einer anderen Zeit. Bemerkungen über Leben und Tod.
Aufnahmen des Polizeifotografen vom Tatort waren in Plastikhüllen in einem Ordner gesammelt. Enzo warf einen Blick darauf. Grelle Farben unter starkem Scheinwerferlicht. Ein Toter, der nach einem Kampf zwischen zertrümmerten Gegenständen lag: Sein Kopf mit dem ungläubigen, starren Gesichtsausdruck war in einem unnatürlichen Winkel zum Körper verdreht.
Enzo konnte kaum fassen, wie zart, ja, zerbrechlich Lambert wirkte. Ein attraktiver junger Mann, dessen Leben – und Tod – von seiner Sexualität bestimmt gewesen war. Er hatte feine Gesichtszüge mit vollen, fast sinnlichen Lippen. Das dunkle, leicht gelockte Haar fiel ihm wirr in die Stirn. Die Blutergüsse und Schrammen am Hals waren deutlich zu sehen.
Sein äußeres Erscheinungsbild war offensichtlich aus der Mode; auch wenn erst siebzehn Jahre vergangen waren, schien es, als gehörte er einer anderen Ära an. Enzo hatte sich in diesen
Weitere Kostenlose Bücher