Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
bei der Mordkommission gearbeitet und mich immer irgendwie für die Opfer verantwortlich gefühlt. Als wäre ich der Einzige, der in der Welt, die sie gerade verlassen hatten, ihre Interessen vertreten kann. Sie konnten sich ja nicht mehr äußern, keine Gerechtigkeit mehr fordern. Das musste ich für sie tun, und wenn es mir nicht gelang, kam ich mir vor, als würde ich sie im Stich lassen.»
Er zog einen Tabaksbeutel und eine Packung Rizla-Zigarettenpapier heraus, um sich den nächsten Glimmstängel zu rollen. «Dieses Jahr wäre er vierzig geworden. Vielleicht zieht sich die Zeit deshalb so endlos dahin, weil ich auch noch all die verlorenen Jahre für ihn leben muss. Für ihn und die anderen.» Er schüttelte den Kopf und zupfte aus jedem Zigarettenende winzige Tabakfasern heraus. «Leider kommen da ein paar zusammen.»
Enzo hob sein Glas und nahm einen Schluck. Der Wein war kalt und schmeckte bitter auf der Zunge. Billiger Rotwein. «Wieso verfolgt Sie Lambert dann mehr als die anderen?»
«Wahrscheinlich weniger er als seine Mutter.» Martinot sah von einem zum anderen. «Das ist immer das Schwerste. Mit der Familie zu reden. Ihnen die Nachricht zu überbringen. Sie war ein bedauernswertes Geschöpf. In jungen Jahren verwitwet. Musste zwei Kinder großziehen, nur mit der Hilfe ihrer Schwägerin. Ihr ganzes Leben gearbeitet, aber am Ende stand sie mit leeren Händen da. Irgendwann lernte die Schwägerin einen Mann kennen und ging weg. Die Tochter bekam MS und landete im Rollstuhl. Und dann steh eines Tages ich auf der Matte. Um ihr das Leben endgültig zur Hölle zu machen und ihr zu sagen, ihr Sohn sei ermordet worden. Ihr Junge. Der einzige Mensch auf der Welt, der sich um sie kümmerte. Sie hatte ihre Arbeit aufgegeben, um die Tochter zu pflegen, und so war sie auch noch finanziell auf seine Unterstützung angewiesen.
Lambert verdiente den Unterhalt für sie beide mit, die Mutter und die Schwester. Er hatte versprochen, ihnen eine schöne Wohnung in der Stadt zu besorgen. Ein Jammer, dass er es nicht tat, bevor er starb. Denn die Behörden hätten sie ihnen nicht wegnehmen können. Aber wie die Dinge lagen, sah seine Familie keinen Pfennig von seinem Schwarzgeldkonto. Das wurde beschlagnahmt. Geld aus dubiosen Quellen.»
«Wusste sie, wie er sein Geld verdiente?», fragte Enzo.
Martinot lächelte traurig und schüttelte den Kopf. «Nicht den blassesten Schimmer. Sie dachte, ihr lieber Junge sei Teilhaber an einem erfolgreichen Restaurant. Sie hatte keine Ahnung, dass er schwul war, geschweige denn, dass er von Prostitution lebte. Vielleicht war es für sie letztlich ein Segen, dass der Fall nie vor Gericht kam. Sie hätte Dinge über ihren Jungen erfahren, die sie nicht hätte wissen wollen. Und ich hatte ganz bestimmt nicht vor, ihr davon zu erzählen.»
«Hatten Sie damals irgendeine heiße Spur in Bezug auf den Täter und das Mordmotiv?»
Der alte Mann schüttelte den Kopf. «Nein. Wir hatten äußerst dürftige Indizien, und das wenige, das wir hatten, erwies sich als widersprüchlich, was sehr frustrierend war. Allerdings habe ich seitdem viel drüber nachgedacht. Wenn ich raten sollte, würde ich mal vermuten, dass Lambert jemanden erpresste und bei seinem Opfer den Bogen überspannte. Allerdings glaube ich nicht, dass er von demjenigen ermordet wurde, den er erpresst hat. Jedenfalls nicht eigenhändig.»
«Wieso nicht?»
«Es war ein ziemlich chaotischer Tatort, Monsieur, und dafür habe ich keine Erklärung. Denn Lamberts Mörder hatte alles geplant und vorbereitet, hinterließ keine Spuren und tötete ihn mit einer Methode, von der Sie oder ich keine Ahnung hätten. Ich kann daher nur annehmen, dass wir es mit einem Profikiller zu tun haben. Jemandem, der für Geld tötet.»
Enzo und Raffin tauschten vielsagende Blicke.
«Aber wie heißt es noch so hübsch bei Ihrem Landsmann Burns? ‹Was Mäus’ und Menschen fein gesponnen, geht scheitern oft.› An dem Nachmittag ging jedenfalls etwas schief, es lief nicht so wie geplant.» Er sah Enzo an. «Ich habe Sie nach dem Anruf von Raffin ein bisschen überprüft, Monsieur. Sie verstehen Ihr Handwerk.»
Enzo nickte zum Dank. «Tatortanalyse war mal mein Spezialgebiet.»
«Dann können Sie ja vielleicht ein wenig Licht auf das Rätsel werfen, was genau bei unserem Mörder schiefgegangen ist. Und falls Ihnen das gelingt, dann haben wir vielleicht den entscheidenden Hebel, um den Fall zu knacken.»
«Natürlich liegt das alles in ferner
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