Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
siebzehn Jahren nicht so stark verändert. Er hatte schon damals seinen Pferdeschwanz getragen, dazu weite, bequeme T-Shirts, Cargohosen und Turnschuhe. Zeitlos, schlicht. Lambert dagegen war ein Abbild der Mode seiner Zeit. Heute hätte er, sogar im selben Alter, ganz anders ausgesehen.
Enzo betrachtete das Chaos rings um den Jungen: den zertrümmerten Couchtisch, einen umgestürzten Stuhl, einen Beistelltisch, den jemand quer durchs Zimmer geschleudert hatte, über einen grellbunt gemusterten Teppich verstreuten Zierrat. Dass es einen ziemlich heftigen Kampf gegeben hatte, war unübersehbar. Als er zu Martinot aufschaute, blickte er in sein lächelndes Gesicht.
«Ich weiß, was Sie denken: Wie in aller Welt konnte Lambert sich derart heftig zur Wehr setzen, wenn er es, wie wir alle vermuten, mit einem Profikiller zu tun hatte? Sehen Sie sich das Federgewicht an. Den hätte jeder mit links erledigt.»
Enzo nickte und nahm den Autopsiebericht zur Hand. Er blätterte darin, bis er zur Beschreibung der Halsverletzungen kam und sah, woraus der Gerichtsmediziner geschlossen hatte, dass der Angreifer Handschuhe trug: Die Kreuznaht an den Fingerkuppen hatte ein Muster in der Haut zurückgelassen. Die Blutergüsse selbst waren unklar. Bei einem klassischen Fall von Strangulation hätte der Mörder am Hals des Opfers vielleicht drei oder vier Male auf jeder Seite hinterlassen, dazu den Daumen auf der jeweils gegenüberliegenden. Eine saubere, klar erkennbare Hand war selten, doch in jüngster Zeit hatte man es geschafft, die Form eines Fingers oder einer Hand mit Cyanoacrylatdämpfen sichtbar zu machen, und zwar so genau, dass man manchmal sogar Fingerabdrücke von der Haut des Opfers gewinnen konnte. In diesem Fall wäre ein solches Verfahren, selbst wenn es schon zur Verfügung gestanden hätte, allerdings keine große Hilfe gewesen.
Die Abschürfungen am Hals hatte sich Lambert, wie Enzo vermutete, selbst zugefügt, als er versuchte, sich aus dem Griff seines Gegners zu befreien. Er blätterte noch ein paar Seiten weiter und fand die Bestätigung. Der Pathologe hatte unter den Fingernägeln Hautpartikel des Opfers gefunden.
Offensichtlich hatte er sich zumindest für einige Zeit gegen den Griff seines Mörders wehren können. Wie Martinot schon bemerkt hatte, war das angesichts von Lamberts schmächtigem Körperbau rätselhaft. Am Ende allerdings hatte er gegen eine Technik, die ihm in einer einzigen, geübten Drehung des Kopfes das Rückgrat brach, keine Chance gehabt.
«Und? Was meinst du?» Raffins Ungeduld war nicht zu überhören, doch Enzo hob beschwichtigend die Hand. Nur die Ruhe. Er nahm den Plastikbeutel mit den Pillen und las, was auf dem Etikett stand: 21 Tabletten, Terfenadin, Markenname Seldane . Er wandte sich an Martinot. «Sind Sie sicher, dass Lambert nicht an Allergien litt?»
«Absolut sicher. Seine Mutter wusste jedenfalls nichts davon. Kein Arzt hatte ihm Antihistamine verschrieben, und es fanden sich auch nirgends in seiner Wohnung welche.»
«Aber Terfenadin war ein verschreibungspflichtiges Medikament?»
«Ja. Wir sind immer davon ausgegangen, dass sie dem Mörder gehörten.»
«Obwohl Sie in der Wohnung nichts feststellen konnten, das eine allergische Reaktion hätte auslösen können?»
«Damals mussten wir uns mit der Erkenntnis zufriedengeben, dass bei einem Asthmatiker fast alles eine Reaktion auslösen kann. Selbst ein Aftershave. Doch Lambert benutzte keins, und auch sonst konnten wir nichts Konkretes finden.»
«Wieso dann dieses zerbrochene Glas im Ausguss und die über den Küchenboden verstreuten Pillen?»
Martinot zuckte die Achseln. «Dazu können wir höchstens Vermutungen anstellen, Monsieur.»
Enzo griff erneut zu den Tatortfotos, um sich diesmal über die unmittelbare Kampfzone hinaus den übrigen Raum möglichst gründlich anzusehen. Ein großes Sofa und zwei Sessel, die alt und schäbig wirkten und halb von bunten Überwürfen bedeckt waren. Der geschmacklose dicke Teppich, die schweren Samtvorhänge an den Erkerfenstern. «Das war eine möblierte Mietwohnung, richtig?»
«Ja.»
«Er lebte da also noch nicht besonders lange.»
«Seit ein paar Monaten.»
«Haben Sie mit den vorherigen Mietern gesprochen?»
Martinot blätterte in den Berichten. «Ja, hier. Zwei Tage nach dem Mord. Ein Paar im mittleren Alter. Sie waren ans andere Ende der Stadt gezogen. Vierzehntes Arrondissement. Reine Routine. Sie konnten uns nicht weiterhelfen.»
«Wäre es möglich, sie
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