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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter May
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er gibt sofort nach, weil er nicht genug Selbstvertrauen hat. Er hat Angst, ist eingeschüchtert.» Enzo schaute in die Runde der aufmerksamen Gesichter. «Aber da ist noch etwas. Ein Wort in dieser ganzen Unterhaltung sticht wie ein Fremdkörper heraus.»
    Als die anderen ihn verständnislos ansahen, wandte er sich an seine ältere Tochter. «Kirsty, überleg mal, Englisch ist deine Muttersprache. Du hast es doch bestimmt gehört?»
    Kirsty erstarrte unter der Last der väterlichen Erwartungen. Wie immer hatte sie das Gefühl, ihnen nicht gerecht zu werden. Sie hätte ihm liebend gerne eine Freude bereitet, doch ihr fiel einfach nichts ein.
    «Er sagt, er sei außer Landes gewesen. In England. Portsmouth.» Enzo wandte sich Bertrand zu. «Sagen Sie mal ‹Portsmouth›. Ganz normal, so wie Sie es sonst sagen würden.»
    Der junge Mann sah ihn verwirrt an. «Portsmouth», sagte er.
    Enzo wirbelte zu Kirsty herum. «Siehst du? Hast du gehört, wie er es ausgesprochen hat? Eben wie ein Franzose.» Gedehnt wiederholte er Bertrands Aussprache: «P-o-r-s-m-u-s.»
    «Vier aufeinanderfolgende Konsonanten – daran bricht sich jeder Franzose die Zunge ab. R-T-S-M. Das kriegen sie nicht auf die Reihe, also sagen sie ‹Porsmus›. Der Anrufer dagegen hat es genau wie ein Engländer ausgesprochen. ‹Portsmouth›.»
    Kirsty nickte und verstand jetzt, worauf die Frage ihres Vaters gezielt hatte. «Du meinst, er ist Engländer?»
    «Das ist es ja. Ich weiß es nicht. Ansonsten klingt er nicht wie ein Engländer.» Er sah Anna an. «Klang er für dich wie ein Ausländer?»
    Sie schüttelte den Kopf. «Für mich klang er wie ein Franzose.»
    «Er hatte einen südlichen Akzent», fügte Sophie hinzu. «Der ist Franzose, darauf gehe ich jede Wette ein.»
    Enzo lächelte und schüttelte den Kopf. Er griff nach einem Buch, das er neben der Stereoanlage ins Regal gelegt hatte. Er schlug eine Seite auf, die er mit einem Lesezeichen markiert hatte. « Die Morde in der Rue Morgue », sagte er. «Von Edgar Allan Poe. Ich würde euch gerne diesen einen Absatz vorlesen.»
    Er setzte sich eine Halbmond-Lesebrille auf die Nasenspitze und hockte sich auf Sophies Sessellehne.
«Der Franzose vermutet in ihr die Stimme eines Spaniers und ‹würde wohl einige Worte unterschieden haben, hätte er Kenntnisse des Spanischen besessen›. Der Holländer behauptet, es sei die eines Franzosen gewesen; doch finden wir mitgeteilt, ‹da er kein Französisch spricht, wurde dieser Zeuge vermittels eines Dolmetschers befragt›. Der Engländer meint, es ist die Stimme eines Deutschen, und ‹versteht kein Deutsch›. Der Spanier ‹ist sicher›, dass es die eines Engländers war, urteilt jedoch insgesamt ‹nach dem Tonfall, da er die englische Sprache nicht versteht›. Der Italiener glaubt, es war ein Russe, aber er ‹sprach noch nie mit einem Russen›. Ein zweiter Franzose geht überdies mit dem ersten nicht einig und hält zuversichtlich dafür, die Stimme habe einem Italiener angehört; doch – ‹mit der italienischen Sprache nicht vertraut› – lässt auch er sich, wie der Spanier, bloß ‹vom Tonfall bewegen›.»
    Enzo hob den Kopf und blickte in die Runde verlegen lächelnder Gesichter. «Nicht leicht, oder? Wir lassen uns alle von unserer persönlichen Wahrnehmung, unserem begrenzten Erfahrungshorizont leiten und kommen zu falschen Schlüssen.» Er schwieg einen Moment. «Wisst ihr, was ein Schibboleth ist?»
    «Eine Losung oder Parole», sagte Raffin.
    «Ja, das versteht man im Allgemeinen darunter. Aber in unserem Zusammenhang ist der Ursprung des Begriffs interessant. Es ist ein altes hebräisches Wort, und sein heutiger Gebrauch geht auf eine Geschichte in der hebräischen Bibel zurück – über einen Bürgerkrieg zwischen zwei hebräischen Stämmen, den Ephraimiten, die sich am einen Ufer des Jordan niedergelassen hatten, und den Gileaditen am anderen Ufer. Falls ein Ephraimit den Fluss überquerte und sich als Freund auszugeben versuchte, forderten ihn die Gileaditen auf, das Wort ‹Shibboleth› auszusprechen. Es bedeutete eigentlich ‹über die Ufer tretender Strom›. Doch im Dialekt der Ephraimiten wurden Sch-Laute immer wie ‹s› ausgesprochen. Die Ephraimiten sagten also ‹Sibboleth› und entlarvten sich selbst.»
    «Demnach ist ‹Porsmus› wie ein Schibboleth», sagte Kirsty.
    «Genau. Es sagt uns etwas sehr Wichtiges über unseren Mörder. Nur dass ich leider nicht weiß, was.» Er schlug sein Buch zu, holte die

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