Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
und das war ein Problem.
Durch die geöffnete Tür des Restaurants sah er seine Mutter vorbeigehen. Wie eine trauernde Witwe ganz in Schwarz gehüllt. Er beeilte sich mit dem Bezahlen und verabschiedete sich von der enttäuschten Kellnerin. Von einem halben Liter herbem roten Rioja ermutigt, folgte er der alten Dame.
Sie trug einen geflochtenen Einkaufskorb und hatte ein schwarzes Kopftuch lose ums Haar geschlungen. Dicht folgte er ihr, riskant dicht: durch die Stadt, an der Carretera del Dr. Callis und einer winzigen Kunstgalerie an der Ecke vorbei, zur Casa de la Vila am Fuß des Hügels. Er lehnte sich auf das Geländer und blickte in das klare grüne Wasser der Bucht darunter, dann sah er seiner Mutter dabei zu, wie sie steif die Treppe zur Kurve der Hafenstraße hinabstieg.
Wieder fragte er sich, wozu das gut sein sollte. Vielleicht schob er nur den Moment hinaus, in dem er sich entscheiden musste, was er machen sollte, doch gleichzeitig lief er ihr zwanghaft hinterher.
An der Café-Bar im Casino bog sie vom Plaça Frederic Rahola auf die Hauptstraße gegenüber dem langen Kiesstrand der Stadt ab, wo sie schließlich die Stufen zu einem kleinen Supermarkt emporstieg. Richard harrte ein paar Minuten auf dem Bürgersteig aus, bevor er ihr in den Laden folgte. Er blieb stehen und tat so, als sähe er sich das Weinsortiment an, während sie an der Gemüsetheke die Auswahl an frischen Waren begutachtete. Als sie sich plötzlich zu ihm umdrehte, zog es ihm das Herz zusammen. Auch sie trug eine Sonnenbrille, sodass er ihre Augen nicht sehen konnte. Lange schien sie sich nicht zu rühren, als sei die Zeit stehengeblieben. Sie sah ihm direkt ins Gesicht. Direkt durch ihn hindurch. Vielleicht waren es nur wenige Sekunden, doch ihm schien es eine Ewigkeit zu sein. Im Suchscheinwerfer ihrer Verwirrung und Ungewissheit fühlte er sich nackt. Er machte kehrt und eilte aus dem Laden, ohne sich noch einmal umzusehen. Ihm pochte das Herz so heftig, dass er es trotz des Verkehrslärms zu hören schien. Er wagte nicht, stehen zu bleiben, sondern lief so lange weiter, bis er wusste, dass sie ihn unmöglich noch sehen konnte, dann lehnte er sich an eine Mauer und versuchte, durchzuatmen.
Er war töricht, unvorsichtig gewesen und fragte sich, ob sie ihn erkannt haben könnte. Natürlich bestand die Möglichkeit.
Es war Zeit zu gehen. Zeit, sein neues Leben anzufangen. Und ihm war eine Idee gekommen, wo.
Kapitel neunundzwanzig
Miramont, November 2008
Die Rückkehr nach Miramont, dem entlegenen Nest in einem Hochtal der Monts du Cantal, war nach dem Aufenthalt in Paris im übertragenen Sinne eher ein Abstieg. Enzo verstand nicht ganz, wieso Raffin beschlossen hatte, wieder mit ihm zurückzufahren, doch er hegte den Verdacht, dass sein Interesse an Anna den Journalisten erneut in die Einsamkeit der Berge zog. Anna war zweifellos eine attraktive Frau und hatte Raffin an jenem ersten Abend unübersehbar in ihren Bann gezogen. Sowenig Enzo die Vorstellung behagte, hielt er den Mund, da es bis jetzt reine Spekulation war.
Bei ihrer Ankunft schien es kälter geworden zu sein, auch wenn der tiefblaue Himmel eher klarer schien. Die Wintersonne warf zwischen den Bergmassiven rings um das Haus tiefe Schatten, und an den Stellen, wo nie ein Sonnenstrahl hindrang, hielt sich den ganzen Tag über eine weiße Frostschicht.
Enzo hatte ein paar rastlose Tage in Raffins Wohnung in der Rue de Tournon, nur einen Steinwurf vom Senat, und in den weitläufigen Anlagen des Jardin du Luxembourg verbracht. Unter grau verhangenem Himmel und bei neblig trüber Kälte hatte er sich die Zeit mit Spaziergängen im Park vertrieben, war durch die Laubverwehungen gestapft oder hatte hinter den beschlagenen Fenstern des gutbesuchten Restaurants in der Nähe des Nordtors über einem Kaffee die Zeitungen gelesen.
Erst am vierten Tag hörte er vom Labor der police scientifique . Sie hatten aus Schleimzellen an Lamberts Pullover ein DNA-Profil gewonnen. Für Enzo war es ein Triumph. Sie besaßen das Profil des Killers. Jetzt brauchten sie nur noch in den Datenbanken eine Übereinstimmung zu finden. Doch das würde vermutlich eine zeitaufwendige, mühsame Suche.
«Wieso?», wollte Nicole bei seiner Rückkehr wissen.
Enzo machte ihr klar, dass sie schließlich nicht wüssten, in welcher Datenbank sie suchen sollten. Jedes der siebenundzwanzig EU-Länder führte seine eigene Datenbank. Obwohl sie erst ein Jahr zuvor den Prümer Vertrag unterschrieben hatten,
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