Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
darum geht es hier nicht.»
«Ach ja? Und worum dann?»
«Um Kirsty.»
«Ich denke, sie hat dir hinlänglich zu verstehen gegeben, dass unsere Beziehung dich nichts angeht, nicht wahr?»
«Ja, das hat sie, und das ist ihr gutes Recht. Das muss ich wohl oder übel respektieren. Aber ich sehe nicht tatenlos zu, wie ihr weh getan wird.»
«Du laberst nur Scheiße.»
«Halt dich einfach von Anna fern.»
Es folgte ein dumpfer Schlag auf eine Arbeitsplatte, dann schwere Schritte. Kirsty rannte schnell die ersten paar Stufen der Kellertreppe hinunter, sodass sie hinter der Biegung verschwunden war, als Raffin mit zornesbleichem Gesicht aus der Küche kam und zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben stürmte. Kirsty blieb in ihrem Versteck und horchte, ob ihr Vater ihm folgte. Doch nachdem es lange Zeit vollkommen still geblieben war, hörte sie schließlich, wie er durchs Esszimmer ging und die Terrassentür öffnete.
Unentschlossen stieg sie ein paar Stufen hinauf und blieb mit gemischten Gefühlen im Dämmerlicht stehen. Noch vor gar nicht allzu langer Zeit wäre sie auf Enzo furchtbar wütend gewesen. Sie wäre in die Küche gestürmt und hätte ihm gesagt, er solle sich gefälligst nicht in ihr Leben einmischen. Doch irgendwie hatte sich ihre Einstellung zu ihm in den letzten Tagen geändert.
«Sie sind heute Morgen spät dran.»
Kirsty schrak zusammen, und als sie herumfuhr, sah sie Anna in der halb geöffneten Tür zum Computerzimmer stehen. «Oh. Morgen. Ich hab wohl verschlafen.»
Anna legte den Kopf schief und sah sie neugierig an, während ihr für einen Moment ein mitfühlendes Lächeln über die Lippen huschte. «Haben Sie schon gefrühstückt?»
«Ich hab keinen Hunger.»
«Wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang? Vielleicht sorgt der für den nötigen Appetit.»
«Mir ist nicht danach.»
Doch so schnell gab sich Anna nicht geschlagen. «Und was hatten Sie sonst vor?» Als Kirsty auf Anhieb nichts einfiel, nahm Anna sie beim Arm und führte sie zur Tür, wo sie nur kurz anhielt, um ihre Winterjacken vom Kleiderständer zu nehmen.
Auf den Dächern und Feldern war der Reif mittlerweile dabei, in der Sonne zu tauen. Der Garten glänzte vor Nässe, und in einem runden Blumenbeet sprudelte ein Springbrunnen durch das Eis. Sie spazierten über den Rasen und zogen eine Spur aus Fußstapfen im bereiften Gras hinter sich her. Am Swimmingpool vorbei gelangten sie auf dem Fußweg zur Straße.
«Wo sind eigentlich die anderen?», fragte Kirsty.
«Sophie und Bertrand sind zu einem Tagesausflug runter nach Aurillac gefahren. Nicole klebt wie gewohnt mit der Nase an ihren Monitoren.» Anna wandte sich noch einmal um und sah, wie Raffin ihnen vom Balkon des Schlafzimmers aus hinterherblickte. Auf der Terrasse an der Schmalseite des Hauses lehnte sich Enzo auf das Geländer und blickte ebenfalls in ihre Richtung. Die beiden Männer konnten einander nicht sehen. Anna hakte sich bei Kirsty unter. «Sie mögen mich nicht besonders, stimmt’s?»
Kirsty wand sich los. «Wie meinen Sie das?»
«Eine Frau, die Ihr Vater in einer Bar aufgegabelt hat. Ein One-Night-Stand. Was wird das schon für eine sein? Auf keinen Fall gut genug für ihn.»
«Zu einem One-Night-Stand gehören immer noch zwei», erwiderte Kirsty, «und das passt bei meinem Vater durchaus ins Bild.» Kaum waren ihr die Worte herausgerutscht, bereute Kirsty sie. So hätte sie noch vor kurzem ganz selbstverständlich gedacht, doch die Dinge hatten sich geändert. Ihr Vater hatte geglaubt, er müsse sterben. Wie stand ihr da ein Urteil zu?
Doch Anna grinste nur. «Junge Leute können ganz schön prüde sein. Wehe, ihre Eltern nehmen sich dasselbe Recht heraus wie sie. In Wahrheit habe übrigens ich ihn aufgegabelt. Sonst hätte Ihr Vater mich wohl nicht einmal bemerkt. Er hatte anderes im Kopf. Ich war zur Beerdigung einer Freundin in Straßburg und fühlte mich deshalb ziemlich mies. Wir brauchten beide eher Trost als Sex.»
«Und jetzt?»
Anna zwinkerte ihr zu. «Definitiv Sex.»
Was Kirsty zum ersten Mal seit Tagen zum Lachen brachte.
Sie gingen schweigend weiter, bis sie auf die Dorfstraße kamen. An einem Kriegerdenkmal vor der Kirche waren die Namen der Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg eingemeißelt. Selbst in einem Nest wie diesem hatte der Krieg fast vierzig Opfer gefordert und damit eine ganze Generation seiner jungen Männer ausgelöscht. Brousse, Chanut, Clavière, Taurand, Vaurs, Verdier.
«Also? Was ist passiert,
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