Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
nicht überzeugend. «Sophie wirkt ziemlich rastlos. Bertrand auch. Ich glaube, er will zurück, um die Sache mit seinem Fitnesscenter zu regeln.»
Enzo seufzte. «Das macht mir ein schlechtes Gewissen. Aber es ist noch nicht sicher. Wirklich nicht.»
«Na ja, sie unternehmen lange Spaziergänge und essen manchmal im Dorf. Sie sind übrigens gerade unterwegs.»
«Und Kirsty?»
Anna verzog das Gesicht. «Ich glaube, sie steht immer noch unter Schock. Immerhin hat jemand versucht, sie zu ermorden. Und es hat ihre beste Freundin getroffen. Roger hat kein einziges Mal angerufen, und sie hat sich die meiste Zeit in ihrem Zimmer vergraben. Im Moment ist er oben bei ihr.»
Enzo wollte sich gar nicht erst vorstellen, was sie in dem Zimmer womöglich gerade machten. «Ich möchte gerne», sagte er stattdessen, «dass sich alle etwas anhören, das ich mitgebracht habe. Aber ich wollte damit bis nach dem Abendessen warten.» Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. «Hilft dir jemand beim Kochen?»
Sie ließ sich von ihm küssen und sagte: «Es macht mir Spaß. Ich habe schon eine Ewigkeit nicht mehr für andere gekocht.»
* * *
Er legte die Kassette in die Stereoanlage ein und drückte auf Play .
Während des ganzen Abendessens hatte er zugesehen, wie Raffin das Gespräch mit Anna an sich riss, mit ihr flirtete und vor Charme nur so triefte. Hingegen war Kirsty immer stiller geworden. Enzo hatte Annas Verlegenheit gespürt und einmal einen stummen, flehentlichen Blick von ihr aufgefangen, sie aus dieser Situation zu befreien. Also hatte er dem Tête-à-Tête ein Ende bereitet, indem er Anna unter irgendeinem Vorwand in die Küche rief. Er beherrschte sich mühsam und hielt zu dem Thema den Mund, um vor Kirsty und den anderen keine Szene zu machen. So richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf das Band.
Mit konzentrierten Gesichtern hörten alle im Zimmer zu. Zwei vom Alter des Tonträgers und vom Telefon verzerrte Stimmen. Ein Mörder, der einen Tag vor der Tat mit seinem Opfer spricht.
«Ja, hallo?»
«Salut. Ich bin’s.»
«Ach so, ja.»
«Tut mir leid, dass ich nicht gestern angerufen habe. Ich war im Ausland. Portsmouth. In England. Geschäftlich.»
«Und was hat das mit mir zu tun?»
«Dachte nur, du wunderst dich vielleicht, wieso ich mich nicht gemeldet habe.»
«Das haben Sie ja nun.»
«Ich wollte morgen Nachmittag vorschlagen. Drei Uhr. Wenn du da kannst.»
«Und wo?»
«Bei dir.»
«Ihnen ist schon klar, dass ich einen neutralen Treffpunkt vorziehe?»
«Hör zu, mein Freund, wir müssen reden.»
Hörbares Seufzen. «Sie wissen, wo Sie mich finden?»
«Selbstverständlich.»
«Dann also um drei.»
«Gut.»
Das Gespräch endete abrupt. Enzo hatte das Band bereits mehrmals abgehört und sich seine eigenen Gedanken dazu gemacht, doch er wollte wissen, was den anderen dazu einfiel. «Was meint ihr?»
«Ich würde sagen, sie mögen sich nicht besonders», sagte Sophie.
«Wie kommst du darauf?»
«Na ja, weil der Mörder sehr höflich ist, aber der andere Mann seinen Ärger nur mühsam beherrschen kann.»
«Ich wäre mir nicht so sicher, ob er verärgert ist oder einfach nur angespannt. Auf der Hut.»
Nicole fragte, ob sie es sich noch einmal anhören könnten, und nachdem Enzo die Kassette zurückgespult hatte, spielte er sie erneut ab.
Nach dem zweiten Durchgang sagte Nicole: «Die kennen sich nicht besonders gut, oder? Schätze, sie haben sich erst ein paarmal getroffen.»
«Woraus schließen Sie das?»
«Weil er fragen muss, ob der andere Mann seine Adresse kennt.»
«Andererseits», bemerkte Kirsty, «kennen sich die beiden offenbar gut genug, denn Lambert setzt beim anderen ja voraus, dass er weiß, dass er einen neutralen Treffpunkt bevorzugt.»
«Und wieso stimmt er dann doch zu, dass der andere zu ihm in die Wohnung kommt?», wandte Raffin ein.
«Weil der Mörder ihn bedroht», sagte Enzo. «Sehr subtil, aber unverkennbar. Er bestimmt den Verlauf dieses Gesprächs. Er duzt Lambert, der ihn umgekehrt siezt. Er spricht mit dem Jungen wie mit einem Kind. Der Anrufer hat sich offenbar entgegen ihrer Verabredung am Vortag nicht gemeldet, doch seine Entschuldigung ist eine reine Floskel. Als Lambert sagt, dass er sich lieber an einem neutralen Ort mit ihm treffen will, schlägt ihm der Mann das rundheraus ab. ‹ Écoute-moi. Hör zu, wir müssen reden.› Das klingt schon nach einer recht unverblümten Drohung. Wir hören Lambert seufzen. Er will nicht, dass der Anrufer zu ihm nach Hause kommt, doch
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