Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Kassette aus der Stereoanlage und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger in die Luft. «Aber ich kenne einen Mann, der es wissen könnte. Die hier muss gleich morgen früh in die Post.»
Kapitel dreißig
Als Kirsty erwachte, fielen lange, golden schimmernde Streifen schräg durch die halb geöffneten Fensterläden. Die Kirchenglocke schlug gerade neun. Sie hatte in der Nacht lange wach gelegen und wunderte sich, dass sie überhaupt ein paar Stunden Schlaf gefunden hatte. Das Bett neben ihr war leer.
Sie stand auf und strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht, bevor sie in ihren Morgenmantel schlüpfte und barfuß über den Dielenboden tappte, um die Balkontüren zu öffnen und die Fensterläden aufzureißen. Die Sonne, die noch tief am Himmel stand, blendete sie, und als ihr die eiskalte Luft entgegenschlug, war sie mit einem Mal hellwach. Das Feld war mit einer dicken Schicht Raureif überzogen, der in der Sonne glitzerte. Lange Schatten bildeten ein Linienmuster auf den weißen Dächern des Dorfs.
Normalerweise hätte ein solcher Morgen sie in strahlende Laune versetzt, und sie hätte sich auf den neuen Tag gefreut. Doch offenbar half selbst das nicht mehr, sie aus ihrer gedrückten Stimmung zu reißen. Die turbulenten Ereignisse der letzten Tage und Sylvies Tod hüllten sie in einen trüben Schleier aus Schuldgefühlen und Reue. Und nun auch noch dieses launenhafte Benehmen ihres Freundes.
In den Tagen, in denen er weg gewesen war, hatte Roger kein einziges Mal bei ihr angerufen, ihr keine einzige E-Mail geschickt. Kaum war er wieder da, hatte er sich zwar liebevoll um sie gekümmert, mitten am Nachmittag mit ihr geschlafen und tröstende Worte gefunden, um sie in ihrer düsteren Stimmung ein wenig aufzuheitern. Doch wenig später war sie während des gesamten Abendessens wieder Luft für ihn gewesen, und er hatte nur Augen und Ohren für die Gastgeberin gehabt. Kirsty wusste, dass dies keinem in der Tischrunde entgangen war. Nicole hatte mit Sophie und Bertrand drauflosgeplappert, die ihrerseits ohne Punkt und Komma redeten, um die peinliche Situation zu überspielen. Die schwelende Wut ihres Vaters am anderen Ende des Tischs hatte Kirsty mit Händen greifen können, doch zu ihrer Verwunderung hatte er sich im Zaum gehalten.
Anna hatte für Kirsty etwas Einschüchterndes. Im Vergleich zu ihr kam sie sich naiv und wenig gewandt vor; sie war davon überzeugt, dass Anna sie mit ihrer Weltläufigkeit und ihrem Witz in den Augen des gebildeten, erfahrenen Roger in den Schatten stellte.
Als sie am Abend zu Bett gegangen waren, hatte sie versucht, mit ihm darüber zu sprechen, doch er hatte nur gesagt, er sei müde, es sei ein langer Tag gewesen, sie reagiere überempfindlich, weil sie deprimiert sei. So hatte er das Gespräch auf den nächsten Morgen verschoben.
Und nun war er vor ihr aufgestanden, und sie fragte sich, ob ein weiterer Tag vergehen würde, an dem er dem Problem auswich.
Sie duschte, zog sich an und trat mit einem mulmigen Gefühl in den Flur. Auf den gewachsten Dielen spiegelte sich das Licht, das durch die Fenster in den Flur hereinfiel. Die Holz-Wendeltreppe, die sich spiralförmig nach oben und nach unten wand, war freitragend konstruiert, soweit Kirsty das sehen konnte. An einer Seite war sie an der Wand befestigt, auf der anderen schwebte das Geländer scheinbar in der Luft. Für Kirsty eine Geistertreppe wie aus einem Albtraum. Auf ihrem Weg zur Eingangsdiele knarrte sie bei jedem ihrer Schritte.
Schon auf dem untersten Treppenabsatz drangen ihr aus der Küche laute Stimmen entgegen. Roger und ihr Vater. Die Tür zur Küche war hinter halb zugezogenen Vorhängen verborgen, und Kirsty blieb wie gebannt stehen, um zu lauschen.
«Ach, du kannst mich mal, Enzo! Du bist doch nur eifersüchtig.»
«Selbst wenn ich nicht wüsste, dass Anna dich für ein Arschloch hält, Raffin, hätte ich keinen Grund zur Eifersucht.» Enzos Ton war ruhig und beherrscht, doch Kirsty hörte seine Wut heraus und war von seiner Wortwahl schockiert.
«Da gebe ich dir allerdings recht. Wieso solltest du wegen einer Hure, die du in einer Bar aufgerissen hast, eifersüchtig sein!»
Es folgte langes, bedrohliches Schweigen, lang genug, damit sich beide Männer etwas abkühlten. Doch Enzos Tonfall war immer noch aufs äußerste gespannt, als er schließlich sagte: «Anna und ich sind einander nichts schuldig, auch keine Treue. Wir genießen den Augenblick miteinander. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Aber
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