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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter May
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geht’s?», sagte er, als würden sie sich kennen. «Soll ich mal?» Und schon tippte er die Nummer ein, die er heimlich erspäht hatte.
    «Ich bin so ungeschickt», sagte sie und schob mit dem Fuß die Tür auf, sobald der Summer ertönte. Er hielt sie ihr auf, und sie trat in den Eingangsflur. An einer Wand befand sich eine Reihe Briefkästen und am Ende des Flurs ein Fahrstuhl. «Sie wohnen im vierten Stock, stimmt’s? Wir sind uns schon mal begegnet, im Aufzug.»
    «Stimmt», sagte Richard. «Ich vergesse nie ein hübsches Gesicht.»
    Erneut errötete sie, diesmal, weil sie sich geschmeichelt fühlte. Zusammen zwängten sie sich in den engen Fahrstuhl.
    «Sie wohnen noch nicht lange hier», sagte er.
    «Nein, erst seit ein paar Wochen.»
    «Diese Zahlenkombination ist wirklich nicht leicht zu merken.»
    «Ja, ich weiß. Ich hab sie immer noch nicht auswendig gelernt. Dumm von mir, nicht wahr? Wenn Freunde kommen und mich nach dem Eingangscode fragen, muss ich immer erst nachsehen.»
    Der Fahrstuhl kam im vierten Stock mit einem Ruck zum Stehen, und Richard trat in den Flur. «Hoffe, man sieht sich.»
    «Ja, hoffe ich auch.»
    Die Türen gingen zu, und Richard blickte in den langen Flur. Er hatte keine Ahnung, welche Tür es war, also lief er zügig an allen vorbei und sah dabei auf die Namensschilder.
    BRIGHT stand an der vorletzten Tür. Er blieb stehen und horchte einen Moment, auch wenn er wusste, dass niemand zu Hause war. Dann zog er einen langen, stabilen Schraubenzieher aus seiner Innentasche, schob ihn zwischen Tür und Rahmen und hebelte ihn ein paarmal hin und her, bis das Holz splitterte und das Schloss nachgab. Kurz blieb er reglos stehen und hielt den Atem an, um festzustellen, ob jemand ihn gehört hatte, dann öffnete er die Tür und huschte in die Wohnung.
    Er zog die Tür hinter sich zu, lehnte sich dagegen und holte ein paarmal tief Luft, um sich zu beruhigen. Er befand sich in einer kurzen Diele. Links gingen zwei Türen ab. Eine ins Schlafzimmer, die andere in die Küche. Am hinteren Ende war eine Toilette. Rechts führte eine Tür ins Wohnzimmer mit Blick auf die High Street.
    Richard hatte das merkwürdige Gefühl, als sei ihm diese Wohnung vertraut. Er war noch nie hier gewesen, fühlte sich aber trotzdem wie zu Hause – und auf einmal ganz ruhig. Er trat ins Schlafzimmer. Das Bett war nicht gemacht. Auf dem Kissen war noch der Abdruck eines Kopfs zu sehen. Der typische schale Schlafgeruch, die Mischung aus verbrauchter Luft und Schweiß, erinnerte ihn an das Zimmer, in dem er sein ganzes Leben lang geschlafen, geträumt und masturbiert hatte. Er öffnete den Kleiderschrank. Herrenhemden und -jacken, Mäntel und Hosen hingen unordentlich an einer Stange. In den Fächern waren T-Shirts, Sweater und Kapuzenpullover gestapelt, auf einem Gestell am Boden des Schranks Schuhe aufgereiht – Lederschuhe, Sportschuhe, ein Paar Doc Martens.
    Er warf seine Tasche auf das Bett und zog sich bis auf die Unterwäsche aus, um eine Reihe T-Shirts anzuprobieren. Sie passten ihm, als hätte er sie selbst gekauft. Eine Jeans war ein wenig zu weit, doch in einer Schublade fand er Gürtel. Zuletzt probierte er ein paar Anzüge an. Perfekt.
    Auf dem Schrank entdeckte er einen Koffer. Er holte ihn herunter und legte ihn geöffnet aufs Bett. Dann wandte er sich wieder dem Schrank zu und machte sich daran, stoßweise Kleider herauszuholen und sie einzupacken. Er würde sich eine ganze Weile keine neuen kaufen müssen.
    In der Küche fand er Bierdosen im Kühlschrank. Er öffnete eine und trank in großen Schlucken, während er ins Wohnzimmer hinüberging. Auf dem Tisch standen noch die Überreste einer Pizza in einer Schachtel, zwei leere Bierdosen daneben. Die Tischplatte war von zahllosen Ringen befleckt, die Dosen, Gläser und Becher hinterlassen hatten. In einer Ecke stand ein riesiger Fernsehapparat mit einem Futon davor. Auf den Fensterbänken und dem Fernseher reihten sich weitere Bierdosen aneinander. Der flauschige Teppich war mit allem übersät, was das Leben an Abfall und Unrat mit sich bringt, von Kleidern über Essenskrümel bis zu Zigarettenasche, und Richard drängte sich die pingelige Frage auf, ob hier jemals gestaubsaugt worden war.
    Auf einem unordentlichen Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand stand ein neuer Amstrad-Computer mit Grünmonitor. Richard zog die oberste Schublade auf und grinste, als sein Blick auf den goldgeprägten, blauen Einband eines britischen Reisepasses fiel.

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