Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
«Und?»
Enzo erwachte aus seiner Trance. «Offenbar funktioniert der Prümer Vertrag besser, als ich gehofft hatte. Sobald die hohen Tiere vom Quai des Orfèvres grünes Licht gegeben hatten, konnten sie die DNA unseres Kandidaten durch diverse europäische Datenbanken jagen.»
«Und?» Nicole platzte vor Neugier.
«Sie haben eine Übereinstimmung mit einem DNA-Personenprofil gefunden. In der NDNAD. Das ist die Datenbank von Großbritannien.»
Raffin sah ihn an. «Aber?»
«Der Mann, dessen Profil zu dem unseres Mörders passt, saß, als Lambert ermordet wurde, in England im Knast.»
«Das ist unmöglich», sagte Nicole, fast genau wie Enzo wenige Augenblicke zuvor. «Da stimmt doch was nicht.»
«Offenbar ist alles korrekt. Das Profil stimmt hundertprozentig überein. Und dazu muss man Folgendes wissen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein DNA-Profil zweier nicht verwandter Personen übereinstimmt, liegt durchschnittlich bei weniger als eins zu einer Milliarde.»
Kapitel einunddreißig
London, England, Oktober 1986
Der Wohnblock befand sich am Südende der Clapham High Street, nicht weit von der großflächigen Parkanlage des Clapham Common. Es war ein sechsstöckiges Gebäude mit Rauputzfassade aus den dreißiger Jahren. Im Zuge einer Renovierung waren die verrosteten Art-déco-Fenster einer Standard-Doppelverglasung gewichen, die den Lärm nicht herein- und die Heizwärme nicht hinausließ. Auch unwillkommene Besucher kamen dank eines Türzugangssystems mit einem sechsstelligen Zahlencode nicht hinein. Vom nächsten U-Bahnhof, Clapham Common, war man in einer halben Stunde im Zentrum von London.
Richard saß in einem Café auf der anderen Straßenseite und versuchte, sich vorzustellen, wie man sich fühlte, wenn man so wohnte. Eine eigene Wohnung zu besitzen, Geld in der Tasche zu haben, Eltern, die man anrufen konnte, wenn man in Schwierigkeiten war.
Er fragte sich, wie sie in seiner Familie Weihnachten gefeiert hatten. Sicher vollkommen anders als bei ihm, mit seiner Mutter in dem Haus auf den Klippen. Sie hatte getan, was sie konnte, mit festlichem Schmuck und einer Weihnachtssocke. Vergeblich hatte sie sich um seine Zuneigung bemüht und ihn mit Geschenken überhäuft, die ihm nichts bedeuteten. Aber es gab immer nur sie beide, und er langweilte sich. Falls sie Freunde oder Verwandte hatte, so kamen sie nie und riefen auch nicht an. Sie sah nie fern, sondern vergrub sich lieber in ein Buch, sodass er sich in sein Zimmer zurückzog, wo er stundenlang den Neid auf seine Schulfreunde nährte, indem er sich ausmalte, wie viel Spaß sie gerade haben mussten.
Er brachte seinen Kaffee, eine dünne Brühe mit zu viel Milch, die auch mit Unmengen von Zucker fade schmeckte, einfach nicht herunter. Er mochte ihn stark und schwarz, echten Bohnenkaffee statt dieses Pulvers aus einem Glas, das man in Milch ertränkte und in England für Kaffee hielt.
Auf der Straße draußen schlug ihm das Tosen des Verkehrs entgegen, und er wartete an der Ampel, bis er die Straße überqueren konnte.
An der Ecke stand eine rote Säule mit einem waagerechten Schlitz, in den Leute Briefe einwarfen. Er zündete sich eine Zigarette an, bevor er sich dagegenlehnte und so tat, als läse er in der Ausgabe des Evening Standard , die er am Zeitungsstand gekauft hatte. Von hier aus hatte er den Eingang zum Wohnblock gut im Blick und konnte, wenn er wollte, in dreißig Sekunden dort sein.
Er sah, wie ein Paar in mittlerem Alter herauskam und auf der High Street Richtung Norden ging. Wenig später kam ein junger Mann, der in großer Eile zwei Stufen auf einmal die Treppe zur Eingangstür hinaufsprang, sodass Richard keine Zeit blieb, ihn anzusprechen.
Fast eine Stunde verging, bevor sich die perfekte Gelegenheit ergab. Eine junge Frau von höchstens fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahren, beladen mit mehreren Einkaufstüten, blieb einen Moment vor der untersten Treppenstufe stehen. Sie zog einen Zettel aus der Handtasche, und noch bevor sie die Tür erreicht hatte, war Richard schon hinter ihr. Er konnte den Code, notiert in einer säuberlichen Handschrift, problemlos lesen, während sie ihn ungeschickt eingab. Wahrscheinlich war sie neu hier und hatte sich die Zahlenfolge noch nicht eingeprägt. Eine der Tüten entglitt ihr, und Zwiebeln rollten die Stufen hinunter. Richard bückte sich rasch, sammelte sie auf und steckte sie wieder in den Beutel. Vor Verlegenheit wurde sie rot.
«Danke.»
Er reichte ihr die Tüte. «Hi, wie
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