Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Er hielt inne, um den Moment in vollen Zügen zu genießen. Diese Person würde er von jetzt an sein. Er nahm das Dokument heraus und fühlte die Textur des Einbands zwischen den Fingern, bevor er ihn öffnete und seinem lächelnden Ebenbild auf einem Foto in die Augen blickte, das den offiziellen Stempel der britischen Passbehörde trug.
Kapitel zweiunddreißig
London, November 2008
Clapham High Street hatte sich in den zweiundzwanzig Jahren, seit Richard Bright dort gewesen war, kaum verändert, auch wenn Enzo die Gegend aus noch früherer Zeit in Erinnerung hatte. Während seiner viermonatigen Ausbildung im kriminaltechnischen Labor von Scotland Yard im Jahr 1978 hatte er ein Zimmer in der Nähe des Clapham Common bewohnt.
Es war ein seltsames Gefühl, wieder hier zu sein, als würde er in eine flüchtige Episode aus seiner fernen Vergangenheit zurückversetzt. Er war damals ein anderer Mensch gewesen, und es fiel ihm schwer, sich den linkischen jungen Enzo vor Augen zu führen, der gerade seinen Master in Forensik in der Tasche hatte und sich fern der schottischen Heimat im riesigen London wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlte.
Selbst das Café hatte sich, seitdem Bright dort 1986 eine halbe Stunde gesessen und seinen Milchkaffee nie ausgetrunken hatte, kaum verändert. Doch das konnte Enzo nicht wissen. Falls es das Café bereits zu Enzos Zeit gegeben hatte, erinnerte er sich nicht daran. Offensichtlich dagegen war die strategisch günstige Lage: Das Café bot nach wie vor einen perfekten Blick auf den Wohnblock gegenüber.
Er saß vor einem bitteren, schwarzen, wässrigen Kaffee an einem Fenstertisch. Dass er ihn ausdrücklich ohne Milch bestellen musste, war ihm haftengeblieben; was für ein Gesöff ihn erwartete, hatte er allerdings verdrängt, sodass er sich wünschte, er hätte stattdessen Tee bestellt. Kirsty saß ihm gegenüber und nippte an ihrer Cola light. Sie war mit der schlechten britischen Küche noch besser vertraut.
Sophie hatte ihm in den Ohren gelegen, sie ebenfalls mitzunehmen. Dass sie zunehmend auf ihre Halbschwester eifersüchtig wurde, war nicht zu übersehen, und so wollte sie nichts davon hören, als Enzo ihr erklärte, er würde auch Kirsty niemals diesem Risiko aussetzen, wäre sie nicht die Einzige, die den Mann aus Straßburg identifizieren konnte – falls er und der Mann, dessen Londoner Adresse Martinot ihm gegeben hatte, tatsächlich identisch waren, was noch lange nicht ausgemacht war.
Sie hatten in dem Café einen Imbiss gegessen und anschließend einen großen Teil des Nachmittags dort verbracht, indem sie das Kommen und Gehen auf der anderen Straßenseite verfolgten. Tatsächlich waren dort eine ganze Reihe Leute gekommen und gegangen, doch darunter kein einziger Mann, der Kirsty an denjenigen im Palais des Congrès erinnerte, der ihr auf die Beine geholfen hatte. Enzo konnte seine Ungeduld kaum zügeln. Als sie ankamen, hatte er als Erstes die Namensschilder am Hauseingang überprüft, und jetzt wäre er am liebsten aufgesprungen und über die Straße gerannt, um bei BRIGHT zu klingeln. Doch falls das hier wirklich ihr Mann war, brächte er damit sowohl Kirsty als auch sich selbst nur unnötig in Gefahr.
Als er den Kopf hob, sah er Kirstys Blick auf sich gerichtet. «Was ist eigentlich aus dir und Charlotte geworden?», fragte sie wie aus heiterem Himmel.
Enzo verzog den Mund. Er hatte Charlotte kennengelernt, als er mit seinen Ermittlungen zu den Morden in Raffins Buch begann. Sie hatte sich damals gerade von Raffin getrennt, und dieser hatte Enzo nie vergeben, dass es zwischen ihm und Charlotte kurz darauf funkte. «Charlotte liebt ihre Freiheit. Sie schläft gerne mit mir, scheut aber eine feste Bindung. Ich habe auch gerne mit ihr geschlafen. Aber ich wollte mehr.»
«Dann ist es aus?»
«Bei Charlotte weiß ich nie, woran ich bin.»
«Roger sagt, sie wäre ein richtiges Luder.»
«Sie hatte auch ein paar charmante Dinge über Roger zu erzählen.» Tatsächlich hatte sie Enzo gestanden, sie habe bei Raffin eine dunkle Seite entdeckt, etwas, das man nicht zu fassen bekam – etwas, an das man lieber nicht rührte. Er hätte es Kirsty gerne erzählt, tat es aber nicht, und sie verfolgte das Thema nicht weiter.
Stattdessen fragte sie: «Und Anna?»
«Ich mag sie sehr, Kirsty. Auch wenn du es nicht gut findest …» Er hob die Hand, um irgendwelchen Einwänden zuvorzukommen. «Aber in jener Nacht in Straßburg waren wir beide, na ja, ziemlich
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