Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
unsichtbaren Mauern widerhallten.
Enzo legte Kirsty den Arm um die Schultern und zog sie an sich, um sie zu trösten und zu wärmen. Dankbar nahm sie die Berührung an und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Sie froren beide und waren von der Anspannung und der Angst völlig erschöpft. Am Eingangstor zur Butlers and Colonial Wharf tippte Enzo den Zugangscode ein, den Simon ihm per E-Mail mitgeteilt hatte, und sie liefen über das alte Pflaster zum Eingang eines ehemaligen Lagerhauses für Gewürze. Er entsann sich, wie Simon ihm erzählt hatte, vor Beginn der Umbauarbeiten sei er mit Schutzhelm durch das ganze Gebäude gelaufen, und es habe von oben bis unten nach Nelken gerochen. Doch falls der Duft aus der Vergangenheit immer noch in diesem Gemäuer steckte, so hatten weder Enzo noch Kirsty, als sie am Morgen die Schlüssel geholt und ihr Gepäck abgeladen hatten, etwas davon gemerkt.
Enzo blieb am Tor stehen und drehte Kirstys Gesicht zu sich herum. Sie sah bleich und müde aus. «Wahrscheinlich kannst du dich nicht mehr daran erinnern», sagte er, «aber als du klein warst, habe ich dich jede Nacht ins Bett getragen. Es gab damals ein Album von Crosby and Nash, das ich gerne gehört habe, und ein Song darauf hieß Carry Me . Den hab ich dir immer vorgesungen, wenn ich dich die Treppe raufgetragen habe.»
Tränen traten ihr in die Augen. Carry me, carry me ’cross the world. Natürlich hatte sie das nicht vergessen. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass auch er sich noch daran erinnerte. Doch sie nickte nur stumm.
«Wenn ich könnte, würde ich es immer noch tun. Ich meine, dich die Treppe hochtragen. Aber du bist dafür inzwischen zu groß und ich zu alt.»
Sie lachte, legte den Kopf an seine Brust und schlang die Arme um ihn. «Ach, red keinen Blödsinn, Dad.»
Er grinste, sie nahm ihn bei der Hand, und sie gingen zügig durchs Tor zur Wohnungstür. Enzo schloss auf, und dankbar traten sie in die Wärme des kleinen Flurs am Fuß der steilen, schmalen Treppe. Das Erdgeschoss diente auch als Garage und war daher von der Straße aus zugänglich. Simons Wohnung lag im Stock darüber. Kirsty lachte. «Die Treppe hättest du mich selbst vor zwanzig Jahren kaum hochtragen können.»
Doch Enzo stand plötzlich reglos da und legte den Finger auf den Mund.
Ihr Lächeln verflog. «Was hast du?»
«Als wir heute Morgen gegangen sind, habe ich sämtliche Lichter ausgemacht.» Seine Stimme klang leise, aber scharf.
Sie schaute nach oben, sah das kalte Licht der nackten Glühbirne, die im Treppenhaus hing, und ihr Blick wanderte weiter zum oberen Ende der Treppe. «Die Tür ist auf.»
Enzo sah, dass die Tür zur Wohnung über ihnen einen winzigen Spaltbreit offen stand. An zwei Seiten war jeweils ein schmaler Lichtstreifen zu sehen. Er sah sich nach irgendeinem Gegenstand um, der als Waffe herhalten konnte. Ein Golfschirm in einem Garderobenständer am Fuß der Treppe war alles, was sich auf die Schnelle anbot. Gegen einen Profikiller keine überzeugende Verteidigung. Er griff trotzdem danach und hielt ihn mit beiden Händen. «Warte hier.»
«Nein.» Sie klang entschlossen. «Das ist Wahnsinn. Wir können immer noch hier verschwinden und die Polizei rufen.»
Er schüttelte den Kopf. «Ich werde nicht für den Rest meines Lebens ständig ängstlich über die Schulter blicken. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich seinen Ängsten stellen muss. Falls ich in Schwierigkeiten komme, hol Hilfe.»
«Da-ad …!» Aber er hörte nicht auf sie, sondern riss sich von ihr los und schlich langsam und so leise wie möglich die Treppe hoch. Als er den oberen Absatz erreichte, hörte er Schritte in der Wohnung, wenn auch nur so eben. Das Blut, das ihm in den Ohren pochte, machte ihn für fast alles andere taub. Ganz sachte schob er die Tür weiter auf. Der lange Flur, der zu dem riesigen offenen Wohnraum am hinteren Ende führte, war dunkel. Licht drang aus der Tür zu einem der Schlafzimmer. Ein Schatten erschien darin und dehnte sich aus, als eine Gestalt über die Schwelle trat. Enzo packte den Schirm so, dass er den massiven Holzgriff als Keule benutzen konnte, und hielt ihn in Augenhöhe.
Als die Gestalt die Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, drehte sie sich erschrocken um. Ein Schalter wurde angeknipst, und der Flur erstrahlte in hellem Licht. Simon stand da und starrte verständnislos auf Enzo mit seinem Schirm. «Regnet es draußen?», fragte er.
Kapitel vierunddreißig
Man brauchte kein Hellseher zu
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