Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
durch eine Art schwarze Magie in Trance versetzt worden. Enzo folgte ihrem Blick. Ein Lkw versperrte ihm die Sicht, doch als der Wagen weiterfuhr, sah er auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig den Mann, den sie gerade in der Wohnung im vierten Stock verlassen hatten. Nur dass es eben nicht dieser Mann war. Enzo lief ein eisiger Schauer den Rücken hinunter. Er zitterte. Vor ihm stand Lamberts Mörder. Der Mann, der Audeline Pommereau auf dem Gewissen hatte, dessen Mordanschlag seine Tochter nur knapp entkommen war. Und der Mann erwiderte seinen Blick.
Für einen Moment setzte Enzos Verstand aus. Ihn erfasste eine solche Woge der Wut, dass er alle Angst verlor und nicht mehr klar denken konnte. Er riss sich von Kirstys Hand los und sprang die Eingangsstufen zum Bürgersteig hinunter, hörte noch, wie sie ihm etwas hinterherrief. Ein Taxifahrer drückte auf die Hupe, als er sah, wie Enzo sich blindlings zwischen die fahrenden Autos stürzen wollte. Am Bordstein musste er wohl oder übel anhalten, weil ein Bus vorbeidonnerte.
Als er wieder freie Sicht hatte, war Rickie Bright, oder wie auch immer er sich jetzt nennen mochte, verschwunden. An der Haltestelle wartete eine Schlange in Mäntel und Schals gehüllter Menschen auf den Bus; andere liefen zum Schutz gegen die Kälte vornübergebeugt mit hochgeschlagenem Kragen mitten im Rushhour-Gedränge die Straße in beide Richtungen entlang und waren vor den hell erleuchteten Ladenfronten nur schemenhaft zu erkennen. Plötzlich war Kirsty an seiner Seite und fasste ihn wieder am Arm, während sie ihn energisch fragte: «Um Himmels willen, Dad, was soll das?»
Sein Zorn verflog und machte Raum für Unsicherheit und Angst. «Mein Gott, Kirsty, kann ich nicht sagen. Ich glaube, ich drehe langsam durch.»
Enzo wandte sich zu ihr um. «Er weiß jetzt, dass wir über ihn Bescheid wissen. Wir schweben in größerer Gefahr als je zuvor.»
* * *
Der Bahnsteig des U-Bahnhofs Clapham Common war zu dieser Uhrzeit völlig verstopft mit Pendlern. Enzo und Kirsty wollten mit der Northern Line zurück ins Zentrum. Ihr Zug, dem ein Schwall heiße Luft vorausging, kam mit einem durchdringenden Kreischen der Bremsen zum Stehen. Die Türen öffneten sich und spien Menschen auf den ohnehin schon überfüllten Betonstreifen aus. Umgekehrt kämpften sich die Fahrgäste hinein und warfen sich in den täglichen Kleinkrieg um einen Stehplatz. Enzo und Kirsty ließen sich von der Menge mitreißen und zwängten sich in die verbleibende schmale Lücke zwischen den Türen.
Ein Signal ertönte, die Türen schlossen sich automatisch. Der Zug ruckelte an, sodass alle ins Wanken kamen, dann fuhr er mit zunehmendem Tempo in die Dunkelheit des Tunnels.
Auf dem Weg zur U-Bahn-Station hatte Enzo nach Bright Ausschau gehalten und unablässig über die Schulter gesehen. Rastlos war sein Blick zwischen den unzähligen Gesichtern hin und her gehuscht, die wie ein über die Ufer getretener, reißender Strom vorüberschossen. Jetzt reckte er den Kopf, um die Fahrgäste im Waggon zu überprüfen. Wer sich einen Sitz ergattert hatte, vergrub das Gesicht in einer Zeitung oder einem Buch. Wer stand, sah gezielt an jedem anderen vorbei. Über das Dröhnen des Zugs hinweg hörte er, wie von allen Seiten Bakterien in die übelriechende Luft dieses winterlichen Brutkastens für Erkältungen und Grippe geniest oder gehustet wurden.
Und dann sah er ihn. Im nächsten Wagen, das Gesicht an die Trennscheibe gedrückt, ohne den geringsten Versuch, sich zu verbergen. Sie sollten wissen, dass er da war. Sie sollten Angst vor ihm haben. Enzo zupfte an Kirstys Arm und deutete mit dem Kopf auf den anderen Wagen. Als sie Enzos Blick folgte und Bright ins Gesicht sah, wurde sie aschfahl. «Was sollen wir nur machen?»
«Wir müssen ihn abschütteln.»
«Und wie?»
«Keine Ahnung. Solange wir in einer Menschenmenge sind, kann uns nichts passieren.» Doch er dachte an die dunklen, einsamen Nebenstraßen des Themse-Viertels beim Tower, hinter der Butler’s Wharf, wo sie in Simons Wohnung übernachten wollten. Simon wurde durch seinen Prozess immer noch in Oxford festgehalten, hatte ihnen jedoch eine E-Mail geschickt und erklärt, sie könnten die Schlüssel von einem Nachbarn holen und in seiner Abwesenheit bei ihm unterkommen. Enzo wusste, dass sie Bright möglichst loswerden mussten, bevor sie in der Cannon Street in einen anderen Zug zur Tower Bridge umstiegen.
Er verfolgte die vorbeigleitenden Namen der Stationen, an
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