Der Moloch: Roman (German Edition)
viele. Sie strich mit den Fingern über die erhabenen goldenen Buchstaben. Sie konnte zwar nicht lesen, aber Lija konnte es. Als sie an ihren Bruder dachte, fühlte sich ihr Magen wieder leer an. Tränen quollen unter ihren Augenlidern hervor.
» Fass sie nicht an, Mädchen!«
Sie wirbelte herum und sah die rothaarige Frau in der Tür stehen. Das Gesicht der Frau war streng, und sie schien Funken zu sprühen. Emly rieb sich die Hände an ihrem Kleid ab und dachte an das Essen unter dem Teppich. Schuldbewusst überlegte sie, ob die Frau wohl wusste, dass sie es dorthin getan hatte.
» Zieh das an«, befahl die Frau. Sie hielt ihr irgendwelche dunklen Kleidungsstücke hin. Emly ging gehorsam zu ihr. Ohne zu zögern, zog die Frau dem kleinen Mädchen das Kleid über den Kopf. Emly stand stocksteif vor Verlegenheit unter ihrem eisigen Blick da. Sie hatte ihre Unterhose schon vor langer Zeit verloren, aber sie hatte es niemandem erzählt, weil sie Angst hatte, Ärger zu bekommen. Jetzt jedoch würde diese Frau sie verraten.
Aber irgendwie schienen die Funken ein wenig zu ersterben. » Die sind zwar zu groß für dich«, sagte sie etwas freundlicher, » aber du kannst sie anziehen, und ich schneide sie ab, damit sie passen.«
Emly zog sich hastig das lange Hemd an, das ihr bis zu den Knien reichte, und stieg dann in die Hose, die Falten um ihre Knöchel warf. Die Frau hatte eine Schere und schnitt die Hosenbeine ab. Dann flocht sie aus den Resten geschickt einen Gürtel, um die Hose zu halten. Das Mädchen zappelte in seiner neuen Kleidung. Der Stoff lag warm und trocken auf ihrer Haut. Bedauernd betrachtete sie ihr rosa Kleid, das auf dem Boden lag. Sie sah, dass es mittlerweile dunkelgrau geworden war.
Die Frau kniete sich hin und sah dem Mädchen ins Gesicht. Emly bemerkte, dass ihre Augen die Farbe von Blumen hatten, von Veilchen.
» Das ist schon besser«, sagte die Frau freundlich.
Dann stand sie auf, und ihr Ton wurde wieder barscher. » Hast du genug gegessen?« Ihr Blick streifte den vollen Wasserkrug. » Du bist nicht durstig?«
Emly sah sie nur verständnislos an, bis die Frau mit den Schultern zuckte, ihre Hand nahm und sie aus dem Bücherzimmer führte. Sie gingen eine breite Treppe mit hohen Stufen herunter, und Emly hüpfte jede einzelne Stufe hinab. Schließlich öffnete die Frau eine schmale Holztür, und sie gingen eine weitere lange Treppe hinunter, die ständig im Kreis führte, bis Emly ganz schwindlig wurde. Schließlich gelangten sie in einen Korridor, der von Fackeln erleuchtet wurde. Und am Ende lag der Raum, wo der alte Mann mit einer anderen Frau redete. Emly fragte sich, ob das wohl seine Ehefrau war. Sie war jedenfalls froh, ihn wiederzusehen. Vielleicht würde er sie ja zu Elija zurückbringen.
» Wenn das Kind genug gegessen hat, nehme ich es, und wir gehen«, sagte er gerade. » Wir müssen nach seinem Bruder suchen. Wenn wir die Flut überlebt haben, könnte er möglicherweise ebenfalls noch am Leben sein.« Dann drehte er sich zu ihr herum. Emly hatte den Eindruck, dass er älter aussah als vorher. Er lächelte, aber seine Miene war schmerzverzerrt, als würde sein Bauch auch wehtun.
» Wir sind in der Tat, wie Indaro sagte, kein Waisenhaus«, sagte die alte Frau. » Aber vielleicht solltest du das Kind bei mir lassen, statt es wieder in die Kanalisation mitzunehmen.«
» Warum sollte ich das tun? Ich weiß nichts über dich. Du hast nur wenige meiner Fragen beantwortet. Warum also sollte ich dir trauen?«
» Bist du der Vater des Kindes oder vielleicht sein Großvater?«
» Nein, aber ich habe ihm Leben gerettet. Wenn man in der Armee einem Bruder das Leben gerettet, übernimmt man auch die Verantwortung dafür. Und genauso ist es mit dieser Kleinen. Außerdem schulde ich es ihr, ihren Bruder zu suchen.«
» Du bist nicht in der Armee, und sie ist kein Soldat.« Die alte Frau drehte sich zu Emly herum. » Möchtest du bei uns bleiben, Kind, oder mit diesem Mann gehen?«, erkundigte sie sich. Emly ging sofort zu Bartellus und schob ihre kleine Hand in seine große.
» Zuerst werden wir ihren Bruder suchen«, erklärte der alte Mann, » und dann werden wir diesen Ort verlassen, wir alle drei zusammen.«
Dann gingen sie gemeinsam aus dem Raum und zurück in die Dunkelheit.
4
Die Träume des Jungen handelten von Dunkelheit und Furcht. Für Elija gab es keine grünen Täler oder blauen Himmel – er träumte von der Welt, die er kannte, und wimmerte im Schlaf.
Als er
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