Der Moloch: Roman (German Edition)
es fertig, die Worte auszusprechen. » Der Unsterbliche verlangt diesen Krieg. Er wird nur enden, wenn der Kaiser es will.«
Sie betrachtete ihn ernst. » Leute, die ihm das ins Gesicht gesagt haben, wurden grausam bestraft.« Sie trank einen Schluck Wasser, bevor sie fortfuhr. » Wir reden hier über zwei verschiedene Dinge. Wenn die Cité groß ist, dann wegen des Mutes und der Zähigkeit ihrer Bewohner. Aber der Krieg hat sie an den Rand der Vernichtung geführt. Und wie du sagst, es ist der Kaiser, der für diesen Krieg verantwortlich ist. Aber er wird ihn niemals beenden.«
» Wie kannst du dir dessen so sicher sein? Und wenn Araeon den Krieg nicht beendet, dann könnte es Marcellus tun.«
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. » Marcellus ist loyal. Er würde sich niemals gegen seinen Kaiser auflehnen.«
Er verfolgte das Thema nicht weiter, weil ihm bewusst war, dass ihre Worte mehr als Hochverrat bedeuteten. Aber es war gut, wieder ein Gespräch zu führen. An etwas anderes zu denken als daran, woher das nächste Essen kommen sollte oder wie schlimm die Haut von den Läusebissen juckte oder wie er noch einen Tag länger überleben konnte, ohne dem Wahnsinn zu verfallen und sich selbst in den Fluss des Todes zu stürzen.
» Als meine Tochter klein war«, fuhr sie schließlich fort, » habe ich ihr die Geschichte von dem Gulon und der Maus erzählt. Kennst du sie?«
» Selbstverständlich. Es ist ein Kindermärchen.«
Er erinnerte sich gut. Der Gulon und die Maus unternehmen zusammen eine lange Reise. Als sie eine weit entfernte Stadt erreichen, sagt die Maus zum Gulon: » Lass mich auf deiner Schulter sitzen, damit ich die Stadt sehen kann und nicht von den Bewohnern zertrampelt werde.« Also nimmt der Gulon die Maus hoch und setzt sie auf seine Schulter. Aber die Bewohner dieser Stadt denken dann, dass die Maus der Herr ist und der Gulon nur der Diener, zeigen auf die beiden und lachen sie aus. Der Gulon ist wütend und nimmt die Maus von seiner Schulter und setzt sie auf den Boden. Augenblicklich wird die Maus unter dem schweren Stiefel eines Einwohners zertreten. Und der Gulon hat wegen seines Stolzes seinen besten Freund verloren.
» Weißt du, was mich meine siebenjährige Tochter fragte, als sie dieses Märchen hörte?«
» Erzähl es mir.«
» Sie hat gefragt: ›Was ist eine ferne Stadt?‹ Als ich ihr sagte, das wäre eine andere Cité weit entfernt, war sie vollkommen verblüfft, denn sie glaubte, dieser Moloch hier wäre die ganze Welt.«
» Damit stand deine Tochter nicht allein. Viele Leute glauben das. Du musst die Cité von außen sehen, um das vollkommen zu verstehen. Nur wenige Menschen tun das, bis auf ihre Soldaten.«
» Und doch weiß jeder, dass wir im Krieg sind.«
Er zuckte mit den Schultern. » Der Feind, die Blauen, wurden dämonisiert, was auch nötig war. Menschen können nicht so lange einen Krieg führen und Entbehrungen ertragen, wenn sie glauben, dass die Feinde Menschen sind wie sie selbst. Sie halten sie für Untermenschen, die nicht in der Lage sind, Städte zu errichten.« Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. » Wie alt ist deine Tochter jetzt?«, erkundigte er sich dann.
Sie antwortete ihm nicht, sondern starrte nur das Glas in ihrer Hand an.
» Wir haben einen Gulon in den Hallen gesehen«, fuhr er schließlich fort, » kurz bevor der Regensturm losbrach.«
» Wo?«
» An der Stelle, die sie das Gierwehr nennen. Kennst du es?«
» Gewiss. Es ist ein sehr wichtiges Zahnrad in der unterirdischen Maschinerie. Und es ist schon sehr lange her, seit ein Gulon so tief unten in den Hallen gesehen wurde. Für etliche ist dieses Tier ein Symbol für die Cité. Und sie betrachten es als ein gutes Omen, wenn sie eines sehen.«
Er schnaubte. » Das sollte jemand dem Gulon sagen. Er war heute ein Omen für Tod und Verzweiflung, jedenfalls für sehr viele Kloaker.«
Er dachte an ihre dem Tode geweihte Suchgruppe, als sie das hohe Wehr überquerten, und dann fiel ihm wieder der Leichnam ein, den sie gefunden hatten. Vor ihm auf dem Tisch lagen viele Krümel. Er sammelte sie und glättete sie dann zu einem Viereck, in das er mit dem Finger ein Zeichen zog. » Kennst du dieses Mal?«, fragte er die Frau.
Sie sah ihn neugierig an. » Ein S? Was ist damit?«
» Ein spiegelverkehrtes S. Ich habe es kürzlich auf der Schulter eines Leichnams gesehen.«
» Vielleicht ein Soldat? Tätowierungen sind bei den Soldaten sehr beliebt.«
» Ja. Er war förmlich mit
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