Der Moloch: Roman (German Edition)
Gesichter und Namen und hatte dieses blasse Mädchen namens Amita noch nie zuvor gesehen. Was an sich bereits verdächtig war. Er humpelte jeden Tag durch die Straßen der Cité und beobachtete Gesichter, vor allem die Gesichter von Mädchen, die in einem Alter waren, dass sie in der Armee dienen könnten. Das war seine offizielle Beschäftigung, für die die Cité ihn bezahlte. Und er hatte gelegentlich auch den Kerr-Palast aufgesucht, als Teil der Arbeit, für die die Cité ihn nicht bezahlte und von der sie auch nichts wusste. Aber dieses knochige Gesicht hatte er noch nie zuvor gesehen. Was nicht weiter bemerkenswert war, weil es Hunderte von Mädchen geben musste, die in Waschstuben und Schenken, Bordellen und Scheunen vergraben waren, auf Feldern und in Fabriken arbeiteten und nur selten das Licht des Tages erblickten. Aber wenn es um Petalina ging, war seine Wachsamkeit noch größer.
Er kannte die Frau und ihre jüngere Schwester Fiorentina, seit sie junge Mädchen im Heim ihres Vaters waren. Er war eine Art entfernter Cousin gewesen. Er war davongeritten, um der Cité zu dienen, als sie noch Kinder waren und daher nicht sein Interesse weckten. Aber er hatte sie beide mit schmerzlicher Klarheit wahrgenommen, als er etliche Jahre später nach Hause zurückkehrte, weil sein Vater gestorben war. Petalina hatte Dol stets versichert, dass er derjenige wäre, der die kostbare Blume ihrer Jungfräulichkeit empfangen sollte. Er hatte es niemals wirklich geglaubt, und es amüsierte ihn sehr, als diese zerbrechliche Blume sich als robust genug für eine zweite Blüte erwies, als Petalina Marcellus kennenlernte. In den Jahrzehnten, die dieser Begegnung folgten, hatte Dol Salida immer Kontakt zu ihr gehalten. Sie war seine erste Liebe gewesen, und falls sich ihre Verbindung mit Marcellus am Ende für ihn als wertvoll erweisen sollte, war das nur umso besser.
Er lächelte. Der junge Kavallerist, der er einst gewesen war, hätte die Maxime ›Man kann gar nicht vorsichtig genug sein‹ höhnisch belächelt. Aber genau das waren die Worte, nach denen der ältere Mann lebte, und sie hatten ihn in dieser zunehmend unsicheren Stadt bisher am Leben gehalten.
Er ging langsam in Richtung der Verwaltungsbüros des Roten Palastes im Westflügel des neuen Gebäudes. Das war seine Entschuldigung dafür, dass er hier war. Er würde die Angelegenheit von Petalinas neuer Zofe mit Dashoul besprechen. Letzterer war für viele Papierberge im Namen der Sicherheit verantwortlich. Und er würde dafür sorgen, dass man über dieses Mädchen Erkundigungen einzog und es befragt wurde.
Dol hatte selbst fünf Töchter. Drei waren im Krieg gestorben, denn sie hatten zwar seinen Wagemut geerbt, aber nicht sein Glück. Die beiden anderen hatten überlebt, und jetzt hatte er acht Enkelkinder, von denen zwei wiederum für ihre Cité kämpften. Jede Nacht betete er in seinem unauffälligen Haus, das direkt am Gelände des Palastes lag, dass die Götter die beiden vor allem Bösen behüten und sie sicher nach Hause bringen mochten. Er hatte sich nie versucht gefühlt, seinen Einfluss oder seine vielen Kontakte zu benutzen, um die Jüngsten aus seiner Familie vor den schlimmsten Kämpfen zu schützen, trotz der häufigen, tränenreichen Versuche seiner Gemahlin Gerta. Er verachtete all jene, die sich dafür aussprachen, die Cité zu unterstützen, aber genau das nicht taten, wenn sie die Regeln für ihre eigenen Zwecke beugten.
Deshalb war er enttäuscht, wenngleich auch nicht überrascht, als ihm auffiel, dass die Tochter seines Urquat-Partners Bartellus nicht älter zu werden schien. Vor drei Jahren, als Dol und der alte Soldat sich das erste Mal getroffen hatten, war das Mädchen vierzehn, und jetzt war sie erst fünfzehn. Aber er war nicht so unhöflich, Bartellus deswegen zu befragen. Stattdessen hatte er Creggan einen Floh ins Ohr gesetzt, als der über das Mädchen redete, als die beiden allein am Urquat-Tisch saßen und auf Bartellus warteten. Wenn der alte Krieger ankam, wechselte Dol das Thema, weil er wusste, dass Creggan irgendwann danach fragen würde. Der Mann war hartnäckig wie eine Zecke, wenn ihn eine offene Frage quälte.
Anschließend war Dol Salida zu dem hartnäckigen Dashoul gegangen. Er hatte ihn nicht etwa über Emlys Status informiert, sondern ihn über den alten Bart selbst befragt. Er fand heraus, das Bartellus ein Mann der Cité war, geboren und aufgewachsen in Gervain. Er hatte dem Kaiser loyal über zwei Jahrzehnte in
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