Der Moloch: Roman (German Edition)
Doppelpente wieder ein und lehnte sich mit dem Hintern gegen eine Wand.
» Weiß ja nicht, was du weißt«, erwiderte der Junge mürrisch.
Damit hatte er nicht Unrecht. Dol zuckte mit den Schultern. » Versuch es.«
» Ich hab gesehen, wie’s gebrannt hat. Überall waren Flammen …«
» Kennst du den Alten Bart und Emly?«
Der Junge nickte.
» Weißt du, wo sie jetzt sind?«
» Sie sind ins Hospital gegangen.«
Das stimmte nicht. Die Krankenhäuser waren das Erste, was Dol überprüft hatte. Er richtete sich wieder auf.
» Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind«, gab der Junge hastig zu. » Aber ich hab den Soldaten gesehen.«
» Was für einen Soldaten?«
» Den Soldaten, der über das Gestell geklettert ist.«
» Der Mann, der sie gerettet hat?« Er hatte nur gehört, der Mann wäre groß und blond gewesen.
Der Straßenjunge nickte. » Hab ihn in der Gasse gesehen.«
» Nach dem Feuer?«
Der Junge schüttelte ungeduldig über Dols Begriffsstutzigkeit den Kopf. » Nein. Vorher. Er hat die beobachtet.«
» Wen hat er beobachtet?«
» Er hat den Alten Bart und das Mädchen beobachtet. Ich hab ihn gesehen. Auf der Rückseite von Meggys Haus.«
» Tatsächlich?« Dol warf dem Jungen die Münze zu, der sie geschickt auffing und in eine Tasche in der Innenseite seiner schmutzigen Hose steckte. » Erzähl mir alles von ihm, woran du dich noch erinnern kannst.«
» Er war groß …«
» Größer als ich?«
Der Junge grunzte abfällig. » Ja. Und jünger.«
» Wie alt?«
Der Junge legte den Kopf schief, in einer Pantomime des Nachdenkens. » So jung wie der da.« Er deutete auf den schnarchenden Mann, den Dol auf etwa dreißig schätzte.
» Er hatte blondes Haar. Und er hatte eine Soldatenjacke ohne Ärmel an. Rot.«
» Ein rotes Uniformwams. Irgendwelche Abzeichen? Streifen oder Knöpfe? Hatte der Soldat Tätowierungen?«
Der Junge schloss nachdenklich die Augen. » Nein«, sagte er schließlich.
Dol seufzte. Einen anonymen Soldaten in einer Stadt zu finden, in der es von Soldaten wimmelte, war eine wahrhaftige Herausforderung.
» Aber er hatte etwas auf seinem Arm«, meinte der Junge.
» Eine Tätowierung?«
» Nein. Als wäre er von Feuer verbrannt worden, nur …« Der Junge verzog das Gesicht. » Nur dass das Mal schon alt war.«
» Eine alte Brandwunde?« Plötzlich tauchte eine Erinnerung tief unten aus Dols Gedächtnis auf. » Sah sie aus wie ein S?«
Der Junge starrte ihn verständnislos an.
» So wie das hier.« Dol bückte sich und zeichnete mit dem Finger ein S in den Staub. » Ein S.«
» Ja. Ein Ssss.«
Jetzt erinnerte Dol sich wieder. Wie Creggan von einem Soldaten in der Schenke der Leuchtenden Sterne sprach und Bart Fragen stellte. Ein Soldat mit einer militärischen Tätowierung der Sieben Sterne, groß mit blondem Haar und einem Brandmal auf dem Arm.
» Ein Ssss«, wiederholte der Junge, dem der Klang des Buchstabens offenbar gefiel. » Könnte für seinen Namen stehen.«
» Sein Name, ja, könnte sein«, erwiderte Dol zerstreut und dachte an das Urquat-Spiel.
» Er war Sami«, meinte der Junge.
» Was war Sami?«
» Sein Name. Er war Sami.«
Dol musste sich zusammenreißen, um dieses nervige Kind nicht an der Kehle zu packen. » Du kennst seinen Namen, Junge?«, schrie er.
» Ja«, sagte der Straßenjunge abwehrend und trat zurück. » Ich hab ihn gehört. Als sie Meggys Haus verlassen haben. Am nächsten oder übernächsten Tag. Sie mochte ihn, Meggy meine ich. Ich hab’s gesehen. Er war nett zu ihrem alten Hund. Ich hab sie gehört. Sie sagte zu ihm: ›Pass auf, Sami‹, das hat sie gesagt.«
29
Es war ein Ort der Intrigen, ein Ort der Geheimnisse. Seine tiefsten Schichten lagen in der unbekannten Vergangenheit, als der Fluss Menander noch unschuldig im Sonnenlicht dahingeströmt war, vorbei an neu gebauten steinernen Hallen und Häusern aus Lehmziegeln. Der Fluss war mit unzähligen Brücken überspannt worden. Dann hatte man angefangen, auf den Brücken selbst zu bauen. Während die Jahrhunderte immer weiter vorbeimarschierten, versank dieser große Fluss vollkommen unter der Cité, die sich immer weiter über ihm erhob, und war schließlich nur noch ein Teil der Abwasserkanäle. Die Menschen hatten seinen Namen vergessen.
Aber der Fluss verschwand nicht. Täglich strömten Millionen Tonnen von Wasser von Süden nach Osten und in der Regenzeit auch noch zusätzliches Wasser aus den Hochebenen. Es floss unter der Cité hindurch, durch die tiefstgelegenen
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