Der Moloch: Roman (German Edition)
als sie mit Elija aus der Cité geflüchtet war. Jetzt war sie zwanzig und Elija achtzehn. Und Emly musste sechzehn sein. Sie schloss Emly immer in alle Gedanken über sich und Elija mit ein, weil Elija das immer tat und weil sie wusste, dass Elija seine Schwester finden würde, wenn sie noch lebte. Dann würde sie, Amita, ihn verlassen müssen. In ihrer Vorstellung malte sie sich aus, dass Emly wie ihr Bruder aussah, dunkel und mit zierlichem Knochenbau, mit freundlichen Augen und einem süßen Lächeln. Sie fragte sich, wo er jetzt so lange steckte, und ein Anflug von Furcht durchzuckte sie.
Nach etlichen Wochen an Bord des Schiffes waren Amita und Elija auf einer fernen Insel an Land gebracht worden, wo sie bei einer Familie eines Schiffseigners untergebracht wurden. Hier gab es grüne Hügel und sandige graue Strände. Damals hatten sie noch sehr viel Angst, denn alles, was sie in ihrem Leben in der Cité erlebt hatten, hatte sie gelehrt, ängstlich zu sein. Aber die Frau des Schiffseigners brachte ihnen die Sprache der Inselbewohner bei, zeigte ihnen, wie man las, und eine Weile gingen sie dort sogar zur Schule. Es waren sehr glückliche Tage.
Dann war eines Tages ein Schiff gekommen und hatte sie geholt. Sie hatten Angst, dass man sie in die Cité zurückbringen würde, und nahmen traurig Abschied von der freundlichen Frau und der Insel. Aber sie wurden wieder übers Meer gebracht, und dann an Land gesetzt. Dort mussten sie viele Tage reisen, bis sie zu einer kleinen Gemeinschaft von Bauern kamen. Hier trafen sie erneut diesen Mann namens Gil, der ihr Führer und Mentor werden sollte. Und hier lernten sie auch die uralte und schwierige Schrift der alten Cité zu lesen, in einer Sprache, die schon lange tot war und nur noch in irgendwelchen kaiserlichen Dokumenten existierte.
Jetzt verließ Amita Petalinas Gemächer und bog nach links in einen langen Korridor ein, der tiefer in den Palast hineinführte. Nachdem sie einige Male falsch abgebogen war, fand sie schließlich Assaios, die grimmige Haushälterin des Südflügels. Sie versuchte, geduldig zu bleiben, während die Frau langsam und methodisch Maß an ihr nahm, für Kleider, die einer Dienerin des Palastes anstanden. Dann belehrte sie sie über ihre Pflichten. Petalina hatte Amita bereits gesagt, dass sie nicht auf diese alte Frau achten müsse, aber Amita sah keinen Grund, sich Feinde zu machen. Sie stand da, den Kopf unterwürfig gesenkt, während Assaios ihr erklärte, wohin sie nicht gehen durfte, wie sie ihre Herrschaft nicht ansprechen durfte, dass sie niemanden ansehen sollte, selbst wenn sie angesprochen wurde. Weiterhin informierte sie sie über die Einschränkungen, was Wasser, Nahrung und Heizmaterial anging. Sie sagte ihr, wo sie nicht und was sie nicht essen sollte, und informierte sie über ihre Kleidung, ihre Manieren und ihren Status, der nach den Worten der alten Haushälterin so gut wie nicht existierte.
Amita vertrieb sich die Zeit damit zu überlegen, was sie mit diesem unerwarteten freien Nachmittag anfangen sollte. Da sie nur noch dreißig Tage Zeit bis zum Tag der Zusammenkunft hatte, musste sie sich mit diesem Flügel des Palastes vertraut machen und einen Weg zur Bibliothek der Stille finden, wie man ihr befohlen hatte. Sie hatte die recht dürftigen Pläne des Palastes studiert, bevor sie hierhergebracht wurde, aber sie erkannte in dem, was sie sah, nicht sonderlich viel davon wieder. Die Karten stammten aus einer Zeit, als dieser Flügel noch die Quartiere der Frauen beherbergt hatte, vor mehr als einhundert Jahren. Jetzt befanden sich hier Wohnungen für die Gäste des Kaisers und der anderen Edlen und ihre Freunde. Die meisten Wohnungen standen den größten Teil der Zeit leer. Aber trotzdem wurde der Flügel noch bewacht. Sie hatte Bewaffnete in den Korridoren gesehen, und wenn sie willkürlich am helllichten Tag hier herumwandern würde, würde das Aufmerksamkeit auf sie lenken.
Nachdem Assaios sie zögernd gehen ließ, beschloss sie, wieder zu Petalinas Gemächern zurückzukehren. Aber sie merkte sich alle Seitengänge, die Treppen, die hinauf- und hinabführten, und die Durchgänge, die sie auf ihrem Weg erblickte. Sie würde sie sich einprägen, denn sie hatte ein exzellentes Gedächtnis. Dann würde sie einen nach dem anderen erkunden, während die Tage verstrichen. Wenn es nicht anders ging, konnte sie immer noch fragen, wo sich die Bibliothek der Stille befand. Aber das war das letzte Mittel. Man hatte ihr immer
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