Der Moloch: Roman (German Edition)
Bad verlassen hatte und wie ein Kleinkind abgetrocknet und gepudert worden war, legte sie sich in einer weißen Seidenrobe auf ihre Tagesliege. Amita ging derweil zu den Kleiderzimmern, wo Petalinas Gewänder hingen. Das bedeutete, sie musste hinausgehen und den privaten Garten durchqueren, der im Schatten einer Palastmauer lag. Dann ging sie durch einen Torweg, der zum hinteren Teil der Zimmerflucht führte. Eine der Dienstmägde hatte ihr den Weg gezeigt und sich darüber beschwert, wie umständlich das alles war. Amita hatte zwar dem Mädchen zugestimmt, insgeheim jedoch war dieser Umstand perfekt für sie. Denn er lieferte ihr einen Vorwand, wann immer sie wollte, in den Garten hinauszugehen.
Es gab drei große Kleiderzimmer, eines für die normalen Kleider, eines für die Abendkleider und dann noch eins für Umhänge und Schals. Schuhe, Handschuhe, Muffs und Hüte wurden in einem vierten Zimmer aufbewahrt, in dem sich Schränke, Kommoden und Regale drängten. Nur Petalinas Unterkleidung und ihre seidenen Morgenmäntel befanden sich in ihren Gemächern in ihrer Nähe.
Schließlich fand Amita ein hauchdünnes Baumwollkleid, das blau und cremefarben gestreift war. In der Hoffnung, dass es das richtige wäre, zog sie einen Leinensack darüber und trug es zur Vorderseite des Gebäudes, wobei sie es hoch über den Boden hielt. Als sie in die Diele trat, hörte sie die tiefe Stimme eines Mannes aus dem Salon. Sollte sie das Kleid ins Schlafzimmer tragen? Wenn die Tür zwischen Schlafzimmer und Salon geöffnet war, würde man sie sehen, und sie konnte die Person im Salon sehen. Man hatte ihr beigebracht, dass persönliche Bedienstete taub und blind den Aktivitäten ihrer Herrschaft gegenüber waren und außerdem unsichtbar für ihre Augen. Sie biss sich auf die Lippen und ging in das Schlafzimmer. Sie durchquerte den in Rosa und Cremetönen gehaltenen Raum und hängte das Kleid, mit dem Rücken zum Salon, an einen Haken, nahm die Leinenhülle ab und wischte es vorsichtig mit der Handfläche glatt.
» Amita!« Petalinas Stimme klang gebieterisch. Gehorsam ging Amita in den Salon. Ein schlanker, wettergegerbter Mann mit einem kahlen, gebräunten Schädel und einem breiten weißen Schnauzbart stand auf einen Stock gestützt am offenen Fenster. Er beobachtete seine Gastgeberin, die nur hauchdünne Seide trug, und streifte Amita nur mit einem flüchtigen Blick.
» Du kannst jetzt gehen«, befahl Petalina ihr knapp. » Komm eine Stunde vor Sonnenaufgang wieder. In der Zwischenzeit geh zu Assaios und bitte sie, Maß für drei neue Kleider für dich zu nehmen. Weißt du, wo du etwas zu essen bekommst?«
Amita nickte, und Petalina entließ sie mit einem kurzen Winken ihrer parfümierten Finger. Das Mädchen verließ den Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Dann hielt sie inne und lauschte. Die beiden sprachen leise, aber ihre Stimmen waren in der Stille des Nachmittags gut zu verstehen.
» Er kehrt morgen aus dem Osten zurück«, sagte der Besucher. » Ich musste erst mit dir sprechen.«
Petalinas Stimme klang so ernst, wie Amita sie noch nie gehört hatte. » Er hat mir eine Botschaft geschickt und mir mitgeteilt, dass er im Morgengrauen hier sein wird. Ich hatte ihn nicht vor dem Winter zurückerwartet.«
» Warum ist er hier?«
» Irgendeine Krise.« Petalinas Stimme klang sorglos. » Etwas Verlorenes. Oder etwas Gefundenes. Es gibt immer etwas. Aber du solltest nicht tagsüber herkommen, Dol Salida. Du bist zu leicht zu erkennen. Was ist mit unserer mitternächtlichen Verabredung?«
Der Mann knurrte. » In der Nacht deine Gemächer aufzusuchen ist zu gefährlich. Marcellus würde mich töten lassen. Aber meine Anwesenheit am Tage kann eine ganz unschuldige Erklärung haben.«
Petalina lachte. » In diesem Palast gibt es keine unschuldigen Erklärungen.«
Dann senkten sie die Stimmen oder zogen sich tiefer in die Wohnung zurück, denn Amita konnte nichts mehr verstehen.
Amita betrachtete sich verträumt in dem polierten Zinnschild, das die Eingangstür zu Petalinas Gemächern schmückte. Sie wusste, dass sie nicht sonderlich hübsch war. Das hatte man ihr als Kind oft genug gesagt. Ihr größter Vorzug war ihr glänzendes blondes Haar, und für gewöhnlich versteckte sie sich hinter seinem Vorhang. Jetzt jedoch hatte sie ihr Haar zurückgekämmt und unter einem einfachen grauen Schal gebändigt, und ihre dunklen Brauen dominierten ihr hageres Gesicht mit den ängstlichen Augen,
Sie war zwölf gewesen,
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