Der Monat vor dem Mord
Schmerzen darüber klar, dass sie exakt das gesagt hatte, was er immer lautstark hatte sagen wollen. Aber, du lieber Himmel, Maria würde sich zurückziehen wie eine Schnecke, und außerdem war ihre Haut faltig, und außerdem war sie keusch, krampfhaft keusch. Es war alles so, wie das Mädchen es begriffen hatte. Und der Junge würde es ebenso wissen.
Horstmann spürte Mitleid mit sich selbst. Aber das währte nur Sekunden, dann glitt er mit der für ihn typischen Halsstarrigkeit wieder zu dem Problem der Kiefernfresser zurück. Schließlich gab er seiner Müdigkeit nach und ging hinauf in das Schlafzimmer. Vorsichtig öffnete er die Tür. Aber Maria war noch wach. Es gehörte zu ihren Eigentümlichkeiten, niemals zu schlafen, wenn er einmal später als gewohnt ins Bett ging. Gleichgültig, ob es ein Uhr oder sechs Uhr morgens war: Sie war wach. Sie war wach, als habe sie die ganzen Stunden über auf ihn gewartet.
»Hast du die ganze Zeit gearbeitet?«
»Ja«, sagte er. Er sah sich in dem Raum um. Man konnte zwischen den Betten und dem Schrank nur mühsam gehen, das Zimmer war zu klein. Dazu kam dieser dunkelrote Vorhang, der die ganze Sache einer Kasematte gleichmachte,einer tristen, stumpfen Kasematte, bei der man nie sicher war, ob man morgens den Ausgang fand.
»Sabine ist keine Jungfrau mehr«, sagte er. »Ich habe eben mit ihr gesprochen. Sie schläft mit allen möglichen Knaben.« In seiner Stimme waren weder Zorn noch Verachtung. Tatsächlich spürte er eine gewisse Heiterkeit. Seine Tochter hatte ihre eigene Mutter hereingelegt. Aber diese Sorte von Mutter war wahrscheinlich nicht so schwer hereinzulegen.
»Ich habe es mir fast gedacht«, sagte sie. Ihre Stimme war nicht schläfrig. »Aber ich habe sie nicht gefragt, weil es ihre Sache ist. Man hat keinen Einfluss darauf.«
Horstmann sah lächerlich aus in der Unterwäsche und mit seinen sehr blassen, fast weißen Armen und Beinen. »Was sagst du? Keinen Einfluss? Das ist doch Irrsinn. Natürlich hat man Einfluss, natürlich kann man was machen, Internat zum Beispiel.«
Maria richtete sich auf und lächelte. »Im Internat werden sie onanieren oder sich mit dem Gärtner hinter die Johannisbeersträucher legen. So ist das.«
Zuweilen hatte sie genügend Mut, so etwas zu sagen, zuweilen gab sie zu erkennen, dass sie mehr wusste und ahnte als er. Und das bedeutete für ihn immer eine Kränkung.
»Wie du redest!« sagte er empört. »Es ist schließlich unsere Tochter.«
»Ja«, sagte sie, »das stört daran, nicht wahr?«
Das war Ironie, und das kränkte ihn noch mehr. Sie war doch farblos und hatte nicht das Recht, ironisch zu sein. »Hör auf«, sagte er, »es langweilt mich.«
»Es macht mir auch keinen Spaß«, sagte sie matt. »Hör auf damit. Wir sollten zusammen sprechen, statt uns zu streiten.«
»Bitte«, sagte Horstmann aggressiv, »sprechen wir also.«
Sie richtete sich auf und zündete sich eine Zigarette an. »Hätte ich verhindern können, dass Sabine keine Jungfrau mehr ist?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. Er wusste es wirklich nicht. Er wusste im Grunde viel zuwenig über diese Dinge.
»Ich hätte es nicht«, sagte sie. »Steh nicht so nackt da rum! Du erkältest dich noch. Diese Mädchen rennen nicht mit allen Dingen zur Mutter oder zum Vater und brüllen um Hilfe. Diese erotischen Dinge sind heutzutage Allgemeingut. Man kann sie als Zehnjährige haben, wie man ein Buch in einer Leihbücherei besorgen kann. So stelle ich mir das vor.«
»Das mag schon sein«, sagte er, »vielleicht hast du Recht.« Er war einfach müde und wollte sich nicht mit ihr streiten. Es war ihm gleichgültig, zu welchen Erkenntnissen sie gekommen war. Mochte sie das mit sich selbst ausmachen.
»Es ist so«, sagte sie und starrte gegen die mit Kunstharz bezogene Fläche des Schranks. »Wir beide geben uns ja auch keine Mühe, irgendetwas in dieser Richtung zu tun.«
»Wieso?«, fragte er.
»Ich finde mich fade im Bett«, sagte sie.
»Sag das doch nicht!« Diesen Fehler machte er immer wieder. Anstatt ihr einmal zu sagen, dass auch er sie fade fand – nicht so krass, nicht mit diesen Worten – nahm er sie, fiel von ihr wie ein Blutegel, der sich vollgesogen hat, um sich gleich darauf wilden, orgiastischen Träumen hinzugeben und sich vorzustellen, was alles zwischen ihm und einer Frau geschehen könnte.
»Vielleicht hätten wir nicht heiraten sollen«, murmelte sie.
»Aber nicht doch«, sagte er und beugte sich zu ihr hinüber.
»Du sollst
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