Der Monat vor dem Mord
zu kneifen. »Wie weit sind sie?«
»Wir kennen die Steuerungszelle«, sagte Horstmann vorsichtig. Wenn eine Sache nicht zu hundert Prozent abgeschlossen war, sollte man nicht darüber sprechen.
»Die Konkurrenz ist nicht weiter«, sagte der Chef.
Das irritierte Horstmann. »Woher wissen Sie das?«
Der Chef lachte. »Mein Gott, Sie sind naiv. Sie sind so harmlos wie ein Damenstift. Ich habe nachgesehen im Stundenbuch des Forschungslabors. Sie arbeiten mit Ocker zusammen. Sie machen mehr Überstunden als reguläre Arbeitszeit. Sie wühlen wie ein Verrückter. Da habe ich gedacht: Wenn einer so an der Sache hängt, muss er etwas wissen. Und dann hatte ich die Hoffnung, wir könnten es schaffen. Ich habe, nun ja, ich habe Verbindungsleute bei der Konkurrenz. Die sagen, sie sind noch nicht weitergekommen.«
»Auch bei den Ausländern?«, fragte Horstmann erschrocken. Verbindungsleute! Wie harmlos das klang! Aber wahrscheinlich war es ziemlich schmutzig.
»Die DDR ist nicht weit, die Bundesrepublikaner sind nicht weit. Die Japaner gehen langsam vor. Die Amerikaner sind sicher, dass sie die ersten sein werden, aber sie wissen überhaupt noch nichts.«
»Nun ja«, sagte Horstmann, »das klingt gut.« Aber es stieß ihn ab. Er hatte irgendwo gelesen, dass 95 Prozent der sogenannten Industriespionage niemals aufgedeckt wurden. Es war kein Wunder bei dieser Vorspiegelung an protziger, aufgeblasener Seriosität. Sie bissen sich wahrscheinlich eher selbst in den Hintern, als zuzugeben, Spione zu bezahlen oder gar ausspioniert worden zu sein. Er konnte ruhig einmal ironisch werden. Er konnte ruhig fragen: »Und wie steht es mit unserem Betrieb: Wer arbeitet bei uns für die Konkurrenz?«
»Keiner«, sagte der Chef.
Das klang im ersten Augenblick sehr überzeugend. Es klang selbstzufrieden und wie ein Rülpser. Aber Horstmann glaubte schon nicht mehr daran, als er das Zimmer verließ.
Da war Binders Bemerkung, dass man für eine solche Sache zweihunderttausend bekommen könnte. Wieso war es nicht möglich, dass das Loch in diesem Betrieb Binder hieß?Das war sogar sehr gut möglich. Immerhin hatte ja Binder als Finanzchef Zugang zu allen wichtigen Dingen, zu allen Forschungsresultaten. Und dann gab es noch ein Detail, das hervorragend dazu passte. Binder war Finanzchef und kannte die Schwierigkeiten jedes Einzelnen. Nichts konnte er leichter ausnutzen als diese Schwierigkeiten. Zudem war er nicht einmal Chemiker. Alles fügte sich sehr gut zusammen.
Ich müsste ihn verpfeifen, überlegte Horstmann. Aber angenommen, er hat wirklich nur einen Scherz gemacht, bin ich blamiert. Es passt im übrigen nicht in die Rolle eines wissenschaftlichen Weltfremden, so etwas herauszufinden. Es passt nicht. Die übrigen Armleuchter sollen weiter von Horstmann denken, was sie bisher gedacht haben.
In der Kantine war es wie immer sehr voll. Irgend jemand hatte Geburtstag, und der ganze Tisch grölte einen Karnevalsschlager.
»Das Proletariat des zwanzigsten Jahrhunderts«, sagte Horstmann ironisch. »Hier arbeiten sie, erzählen sich dreckige Witze, setzen sich in ihre Mittelklassewagen, fahren nach Hause und tun so, als trügen sie Verantwortung. Dafür werden sie von ihren Ehefrauen angehimmelt und manchmal ein bisschen beschissen, nur das Denken haben sie verlernt.«
»Hör auf«, sagte Ocker, »du kannst selbst das mieseste Essen noch schlechter machen mit deiner Art zu reden.« Er beugte sich zu Horstmann hinüber und murmelte: »Meine Alte hat ein Buch gekauft, in so einem Esoshop. Stellungen sind da drin, Junge, Stellungen!«
»Du wirst dir eines Tages einen weiblichen Unterleib aus Schaumgummi kaufen und im Labor Versuche anstellen«, murmelte Horstmann.
»So was gibt’s schon«, murmelte Ocker grinsend.
Horstmann lachte. »Dann versuch mal die Stellungen«, sagte er. Am Nebentisch saßen die Sekretärinnen der Geschäftsleitung. Sie hatten gelangweilte Gesichter, als wüssten sie alles von dieser Welt. »Da nebenan«, sagte Horstmann, »die Blonde da. Wäre die als Versuchskarnickel nicht besser?«
»Vielleicht«, sagte Ocker. »Aber so was kostet Geld.«
»Das ist wahr«, gab Horstmann zu. Er dachte wieder an das Geld.
Dann fanden sie die Lösung: Sie wurde ihnen geschenkt.
Horstmann saß gegen zehn Uhr abends in seinem Keller. Er versuchte, herauszufinden, ob sich die Gehirne der kleinen Tierchen in ihrem Aufbau glichen oder ob die einzelnen Bestandteile scheinbar wahllos in der Masse aus Wasser verstreut waren. Er
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