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Der Monat vor dem Mord

Der Monat vor dem Mord

Titel: Der Monat vor dem Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
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Mikrozelle wäre, könnte ich es begreifen, aber diese Zelle hat in der Regel zwei Millimeter Durchmesser. Ich begreife das nicht.«
    »Vielleicht ist es keine Zelle, vielleicht ist es ein Zellverband?«, fragte Horstmann. Er war mit diesem Zustand zufrieden, denn er machte ihn so erschöpft, dass er sich um Maria und die Kinder beim besten Willen nicht kümmern konnte.
    »Kein Zellverband«, sagte Ocker. Er schüttelte heftig den Kopf. »Mein Mikroskop ist gut genug, ich würde Zellen voneinanderunterscheiden können, aber es gibt keine Trennwände und auch keinen Stoff, den man als Trennwand bezeichnen könnte. Wenn ich versuche, die Zelle freizulegen, schmilzt sie weg wie ein Stück Eis unter der Sonne.«
    Horstmann stand am Fenster und murmelte: »Stell dir vor, Sabine ist keine Jungfrau mehr.« Er hatte die ganzen Tage über daran denken müssen. Warum sollte er es nicht Ocker mitteilen? Ocker hörte zu.
    »Na und?« Ocker lachte. »Ich weiß nicht, ob du noch in dieser Welt lebst. Heute nehmen Dreizehnjährige die Pille. Was ist schon dabei? Sabine ist siebzehn. Und sie ist schnuckelig.«
    Das ärgerte Horstmann. Ocker hatte kein Recht, Sabine als »schnuckelig« zu bezeichnen. Schnuckelig war ein ekliges Wort, fand er. Ocker hätte sagen können »hübsch« oder »kess« oder »nett«. Aber schnuckelig! »Willst du damit sagen, dass du so etwas als Vater billigen würdest?« Darauf konnte Ocker schlecht antworten, denn Ockers hatten keine Kinder. (Wahrscheinlich, weil sie keine wollten.)
    Ocker grinste und ging hinüber zu seinen Mikroskopen und Gewebeschnitten, um sich eine Flasche Bier zu holen. Als er zurückkam, sagte er: »Ich weiß, was du denkst. Du denkst: Ocker hat keine Kinder gezeugt, also kann er auch nicht über Kinder diskutieren. Aber so ist das nicht. Es kommt nämlich gar nicht darauf an, ob du das als Vater billigst oder nicht.«
    »Wieso das?«, fragte Horstmann.
    »Weil Sabine dich gar nicht erst fragt«, Ocker grinste unverhohlen. »Du bist schon ein Merkwürdiger. Du lebst in dieser Welt, nicht im Neandertal.«
    »Na ja«, murmelte Horstmann, »ich fand es lediglich beschämend, dass ich von alledem nichts gewusst habe. Harald raucht Hasch.«
    »Das ist so ungefähr dasselbe«, sagte Ocker fröhlich und nicht im geringsten beeindruckt. »Erst strampelt ihr euch im Bett ab und macht Kinderchen, und dann wollt ihr, dass diese Kinderehen genau nach euren Vorstellungen leben. Eine komische Rasse, die Eltern! Eine ganz komische Rasse. Erst setzt ihr sie in die Welt, dann verlangt ihr, sie sollen so steril leben wie ihr. Und wenn alles nicht hilft, macht ihr sechs Bausparverträge und traktiert die Kleinen mit einer Erbschaft. Ihr wisst gar nicht, was für Arschlöcher ihr seid. Entschuldige schon, aber ihr wisst es wirklich nicht. Anstatt mit der eigenen Frau nichts als fröhlich zu sein und die Kinder laufen zu lassen und ihnen zu helfen, wenn sie wollen, seid ihr im Bett keusch wie Räucheraale und ›helft‹ den Kindern mit aller Gewalt. Weißt du was? Wenn ich heute Kind wäre, würde ich als erstes für die Abschaffung der Eltern auf die Straße gehen. Entschuldige schon, aber ihr seid wirklich Arschlöcher mit euren Kummerfalten und euren Bausparverträgen.«
    Horstmann zuckte die Achseln. Man konnte mit Ocker tatsächlich nicht über solche Dinge sprechen, wahrscheinlich lag ihm diese Materie zu fern, er machte es sich zu einfach. Er nahm die Welt mit einem großen Grinsen in die Arme, fand »alles ganz natürlich« und lebte so vor sich hin. Man konnte wirklich nicht mit ihm über Sabine oder Harald sprechen. Ocker mochte Probleme nicht.
    »Maria hat mir vorgeschlagen, Sabine nicht in ein Internat zu stecken. Sie sagt, dort würden sie onanieren oder sich mit dem Gärtner amüsieren.«
    »Das stimmt wohl«, sagte Ocker beiläufig, »Da gebe ich Maria Recht.«
    »Woher weißt du das?« Horstmann war jetzt begierig.
    »Weil meine Frau es gesagt hat«, murmelte Ocker. »Mir kommt da gerade eine Idee. Vielleicht kriege ich die Zelle annähernd frei, wenn ich das Gewebe um sie herum bis auf einen hundertstel Millimeter wegschneide. Vielleicht kann ich sie dann lange genug erhalten.«
    »Versuch das«, murmelte Horstmann.
    Aber das gelang nicht so schnell. Am hinderlichsten erwies sich dabei die umgebende Masse der Zelle, die wie Gallert reagierte und die Zelle beim leichtesten Druck von der Schneide des winzigen Skalpells wegdrückte.
    »Aber ich kann das Zeug doch nicht in einen

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