Der Monat vor dem Mord
deshalb, weil er bis zu diesem Abend immer ins Werk gegangen war. Und ihm fiel es deshalb so leicht zu lügen, weil er fest daran glaubte, lügen zu müssen. Später wollte er nicht mehr lügen. Er malte sich heiter und selbstgefällig aus, was sie sagen würde, wenn er genüsslich bemerkte: »Ich gehe mit Ocker essen, dann ein wenig saufen. Vielleicht in einen Puff. Sicher in einen teuren Puff. Ocker kennt da eine hervorragende Frau. Sie ersetzt den Psychiater, sagt Ocker.«
Was würde sie sagen? Sie würde entsetzt sein. Um Himmels willen, würde sie denken, wie kann dieser Mann, der immer so ein braver Bürger gewesen ist, der ein Haus hat und zwei Kinder großgezogen hat – wie kann denn ein solcher Mann plötzlich so etwas tun?
Er hatte natürlich die Möglichkeit, die halbe Wahrheit zu sagen. Etwa die: »Ich gehe mit Ocker essen. Ich muss mal abschalten.« Aber halbe Wahrheiten waren nutzlos und überdies gefährlich. Sie waren wie schlechter Leim.
»Wird es lange dauern?«, fragte Maria.
»Wahrscheinlich die ganze Nacht«, sagte Horstmann. »Ich muss mit Ocker an den Kiefernfressern weiterarbeiten.«
»War meine Lösung richtig?«
»Sie war richtig«, sagte Horstmann. Es war unbequem, ausgerechnet Maria sagen zu müssen, ihre Lösung sei richtig gewesen. »Wenn du willst, gehen wir in den Keller. Ich erkläre dir, was ich mit deinem Grundgedanken gemacht habe.« Er sagte »Grundgedanken«, um den Abstand zu wahren.
»Das wäre fein«, sagte sie. »Wollt ihr zuerst essen?«
»Nicht nötig.« Sabine lächelte ironisch, als wisse sie genau, was ihr Vater vorhatte. Aber es war sicherlich dumm, das anzunehmen. Woher sollte sie es wissen? Mädchen in diesem Alter blufften gern.
»Na, komm«, sagte Horstmann gönnerhaft. Ganz leise stieg wieder der Ärger in ihm hoch, dass er Maria nichts von den hunderttausend Mark sagen konnte, die er auf eine so glänzende Art gewonnen hatte.
»Ich habe heute Morgen mit dem Chef gesprochen«, sagte er, »Ich habe ihm die Lösung des Problems erklärt. Er hat mir dreihundert Mark Gehaltszulage gegeben.«
»Das ist schön«, sagte sie schnell. Sie stand auf der Kellertreppe ein paar Stufen über ihm und freute sich für ihn. Für sich selbst freute sie sich anscheinend niemals, ebenso wenig wie sie auf irgendetwas stolz war, das sie jemals getan hatte. Wahrscheinlich fürchtete sie sich sogar davor.
»Meine Formel«, sagte Horstmann, während er die Lampen einschaltete, »war zwar kein Geniestreich, aber immerhin vollkommen logisch. Sieh dir die Viecher an!« Er deutete in die Ecke des Raumes, wo auf einem Haufen Kiefernzweige die gefräßigen Schädlinge wie rosa Blüten saßen.
Horstmann ging an die Tafel, die er sich selbst in die Betonwand eingedübelt hatte, und begann zu schreiben. »Das ist die Formel. Sie sieht kompliziert aus, aber sie ist es nicht, wenn man begreift, was dahinter steckt. Ich meine, wenn man meinen Grundgedanken versteht. Der Grundgedanke stammt von dir.« Er erwartete ganz fest, dass sie den Kopf schütteln würde in Demut, und er war geradezu erschreckt, als sie heftig nickte.
»Ich habe zwar das Meiste vergessen, aber einiges weiß ich noch. Wenn ich die einzelnen Stoffe addiere, muss sich zwangsläufig ein Mittel ergeben, das das Wasser entzieht. Es bindet Wasser. Und zwar heftig und schnell. Komisch.« Sie lachte wieder dieses keusche, verschämte Lachen. »Ich habe gedacht, ich würde so etwas nicht mehr können. Formeln lesen, meine ich. Aber manchmal kann ich es noch. DieseFormel werde ich nie vergessen. Sie ist gut, mein Gedanke war gut.«
Wieder war sie stolz auf ihn, nicht auf sich, weil sie ihn zum Beispiel hatte heiraten können. Sie war nur stolz auf ihn. Mir ihrer totalen Passivität konnte sie Horstmann krank machen.
Er sagte: »Es ist doch scheißegal, ob ich die Formel entwickelt habe! Freu dich doch darüber, dass du nicht alles verlernt hast! Ocker hätte zum Beispiel die Formel nicht sofort deuten können. Freu dich doch endlich mal!«
Sie war einen Augenblick lang verwirrt. Dann war nichts mehr von ihrer Neugier da, nur noch Furcht. »Es hat doch keinen Zweck«, murmelte sie. »Ich bin zu alt. Sieh mich doch an!«
Horstmann sagte: »Du übertreibst.« Aber es klang nicht überzeugend. Er versuchte es zum tausendstenmal oder zehntausendstenmal. Bisher war er immer zurückhaltend gewesen, nun wurde er ganz gezielt vulgär. »Du musst doch den Eindruck haben, dass du etwas versäumt hast. Du weißt doch ganz genau, dass
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