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Der Monat vor dem Mord

Der Monat vor dem Mord

Titel: Der Monat vor dem Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacques Berndorf
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häufig in Romanen las oder in Filmen sah. Er musste erschrecken und dann irgendetwas Blödsinniges stammeln. Zum Beispiel: »Es tut mir leid« oder »das wollte ich nicht«, irgend so etwas. Aber er tat es nicht. Er wusste genau, dass dies sein Sohn war, der da unten auf dem Bett vollkommen fassungslos vor sich hinschluchzte. Ja, es war sein Sohn, aber es war nicht mehr sein Junge. Es lag ein großer Unterschied darin, ob man einen Jungen hatte oder einen Sohn. Er hatte jetzt nur noch einen Sohn. Das schmerzte ein wenig, aber zugleich war diese Erkenntnis heilsam. Sie war wie ein Schlussstrich unter einer Periode der Unsicherheit.
    Er ging an das Fenster und dachte mechanisch, dass er sich jetzt engagiert hatte. Das war nicht mehr rückgängig zu machen. Er hatte damit begonnen, und er musste es zu Ende führen. Es war tatsächlich so etwas wie ein Forschungsauftrag, wenngleich er unendlich behutsam ausgeführt werden musste. Es ging nicht mehr um Kiefernfresser, es ging um seine Kinder. Horstmanns Gefühle waren zwiespältig und quälend.
    »Wo hast du die Zigaretten?«, fragte er ganz ruhig.
    Der Junge wischte sich mit dem Taschentuch über die Nase und sah starr gegen die Decke. »Wie fühlt man sich, wenn man den Sohn verprügelt?«
    »Beschissen«, sagte Horstmann. Dann setzte er arrogant hinzu: »Wenn du dieses Zeug nicht geraucht hättest, könntest du mich ziemlich leicht verprügeln.«
    Der Junge nickte schwach. Er war sehr stark getroffen, aber er begriff trotzdem sehr schnell. Er war schließlich sein Sohn. »Wenn ich fit gewesen wäre, hätte ich dich verprügelt.«
    »Du bist aber nicht fit«, sagte Horstmann. »Wo sind die Zigaretten?«
    »In der Schreibtischschublade. Was willst du damit machen?«
    Horstmann wurde ironisch. »Ich werde Pfadfinder spielen. Jeden Tag eine gute Tat.« Er zog die Schublade heraus und starrte auf diese Masse an Unrat. War es Unrat? Vielleicht bestand die Möglichkeit, dass der Junge sie einfach wieder zurückgab? Man konnte Geld sparen.
    »Kannst du sie zurückgeben?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Der Händler würde was wittern. Vielleicht denkt er, ich hätte aus jedem Joint die Hälfte rausgemacht und dann also zweitausend Dinger fabriziert. Wenn ich ihm die tausend zurückgebe, wird er misstrauisch. Er hetzt mir seine Bande auf den Hals, was weiß ich.«
    »Dann werden wir also Pfadfinder spielen«, sagte Horstmann.
    Sabine kam mit dem Wassereimer herein und starrte auf das ausgebrochene Türschloss. Als sie Harald sah, wie er blutete, und als sie das viele Blut auf dem weißen Bettzeug sah, fragte sie: »Habt ihr euch geprügelt?«
    »Nein«, sagte Horstmann. »Stell den Eimer hin und geh wieder hinunter.«
    »Ja«, sagte sie. Es war unvermeidbar, dass sie hinzusetzte: »Warum müssen Männer immer so brutal sein? Man kann doch diskutieren.«
    »Manchmal nicht«, sagte Horstmann. »Wenn Mama kommt, sagst du keinen Ton.«
    »Ja«, sagte sie. Dann lief sie sehr schnell die Treppe hinunter, als habe sie Angst, es könne etwas Entsetzliches geschehen.
    »Sie ist in Ordnung«, sagte Horstmann beiläufig. Er wollte vermeiden, dass Harald seine Schwester als Denunziantin ansah.
    Der Junge aber sagte ohne Bitterkeit und Spott: »Das ist sie.«
    Er war wohl erwachsen, er war erstaunlich erwachsen. Horstmann fragte sich, was er dachte. Was ging jetzt in diesem verdammten Schädel vor sich? Vielleicht hegte er Rachegefühle? Vielleicht schämte er sich? Horstmann entschied sich sehr schnell für das letztere, obwohl das Gesicht des Jungen vollkommen nichtssagend wirkte. Nach Horstmanns Erfahrungen mit sich selbst aber musste der Junge jetzt Scham spüren. Also durfte man ruhig einen Schritt weitergehen. Er nahm die Zigaretten mit beiden Händen aus der Schublade und warf sie in den Eimer mit Wasser. Er sagte: »Ich gebe dir einen Scheck. Du holst das Geld von der Bank und lieferst es ab. Heute Abend geht das nicht mehr. Aber du kannst morgen früh sowieso nicht in die Schule, du siehst aus wie das Leiden Christi zu Pferde. Du wirst statt dessen in den Zoo gehen oder vielleicht irgendwohin fahren, wo frische Luft ist. Klar?«
    »Ich weiß nicht«, sagte der Junge. Seine Nase hatte zu bluten aufgehört, er setzte sich hin. »Hast du eine Zigarette?«
    »Sicher«, sagte Horstmann. Er warf dem Jungen das Päckchen zu und beobachtete ihn, wie er mit unruhigen Fingern versuchte, das Streichholz an die Zigarette zu bringen. Der Junge tat ihm nicht leid. Mitleid war eine dumme Sache.

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