Der Monat vor dem Mord
wir beide furchtbar viele Dinge nicht getan haben. Zum Beispiel im Bett. Gib doch endlich zu, dass du manchmal träumst, die verrücktesten Dinge mit mir zu tun. Ich weiß das genau, denn manchmal stöhnst du im Schlaf vor Geilheit, jawohl, es ist Geilheit. Soll ich das Wort buchstabieren? Wieso gibt es nach zwanzig Jahren Ehe Schranken? Warum hast du zwanzig Jahre lang jedes Mal vollkommen verkrampft gesagt: Bitte nicht! Die Kinder könnten uns hören! Weißt du, dass diese Kinder im Bett schon beide besser sind als wir zwei?«
Er wollte sich weiter steigern und sich weiter in irgendwelche wolllüstigen Vorstellungen hineinarbeiten. Aber er stoppte abrupt, weil er dachte, dass auch dieser Versuchohne Ergebnis bleiben würde. Er setzte noch hinzu: »Und alles das hat uns total verklemmt gemacht.« Dann atmete er tief aus und versuchte zu lächeln, aber er konnte nicht.
Sie hatte sich an die Wand gelehnt, und sie starrte ihn aus sehr groben Augen an. Sie war entsetzt. Es war so richtig, was er gesagt hatte, es war so gemein und quälend richtig. Sie wollte irgendetwas erwidern. Sie wollte ihm sagen, er solle sie nicht mit Worten quälen. Er solle sie lieber lange streicheln und dann versuchen, irgendetwas Blödsinniges mit ihr zu tun. Einmal, zweimal, dreimal, fünfzigmal. Vielleicht würde sie dann aufwachen und glücklich sein.
Sie konnte nichts sagen, ihr Mund war trocken. In einem sehr heftigen Anfall von Furcht rannte sie die Treppe hinauf, durch den schmalen Korridor in die Küche und lehnte sich keuchend an den Eisschrank, und dann begann sie in Gedanken mit ihrem Mann zu sprechen, beinahe kindlich: Ich habe doch so einen weiten Weg gehen müssen, Lieber. Und ganz allein. Ich konnte doch nichts sagen, weil schon meine Eltern tief in mich hinein den Satz gelegt haben, dass man über so etwas nicht spricht. Das ist aber nur der erste Teil des Weges. Als sie mir die ersten Hosen anzogen, waren die nicht aus Stoff, sondern aus Zement. Sie haben sehr eifrig daran gearbeitet, dass alles, mein Schoß, meine Brüste, mit Zement verschmiert wurden. Und dann haben sie geduldig gewartet, bis dieser Zement steinhart war. Dann erst haben sie mich auf die Welt gebracht, dann erst durfte ich manchmal allein sein. Siehst du jetzt meinen Weg, Liebster?«
Sie erschrak und dachte darüber nach, was sie eben erkannt hatte. Und plötzlich überfiel sie Heiterkeit. So war es. Sicherlich, so war es. Alles war einbetoniert. Sie brauchte einen Hammer. Nein, sie brauchte zwei Hämmer. Er konnte ebenso gut den Beton losschlagen wie sie. Es gab keinenGrund, warum nicht er den Beton losschlagen sollte. Er war schließlich kräftiger. Wichtig war nur, dass er dabei gar nicht redete, den Beton traf und niemals ihre Haut. Wenn er nur den Beton traf, war es gut, dann war sie frei, und sie konnten alles tun. Wenn er nicht so viel sprach und nur den Beton einfach Stück für Stück von ihr herunterschlug. Von ihren Brüsten, aber hauptsächlich von ihrem Schoß. Denn er hatte, so dachte sie, im Grunde recht: Ihr Schoß gehörte ja ihm, und es war eigentlich ungehörig, fremdes Eigentum zu behalten. Diese Idee fand sie amüsant, zum ersten Mal seit langer Zeit fand sie eine Idee amüsant.
Dann kam sekundenlang eine Welle der Furcht. Es war ein ähnliches Gefühl, als ob man in dem rumpelnden Waggon einer Achterbahn saß und eine Fünfundvierzig-Grad-Neigung herunterschoss. Sie dachte: Er muss aber sehr schnell zuschlagen. Mein Gott, hoffentlich ist es nicht zu spät.
Sie lief zurück, die Kellertreppe hinunter. Er saß vor seinem Labortisch und betrachtete irgendetwas durch das Mikroskop. Er sagte: »Gibt’s Essen? Ich komme sofort.«
Sie trat ganz dicht hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. Sie sagte ein wenig heiser: »Du hattest vorhin Recht.«
Er drehte sich herum, grinste und sagte jovial und kumpelhaft: »Na siehst du, Mädchen? Ich sagte doch, dass es noch gut wird.« Und er freute sich wirklich darüber, wenngleich er die Hoffnung längst begraben hatte. Etwas eifrig sagte er: »Ich esse schnell was, dann erledige ich die Sache im Werk und komme wieder, ja?« Es hatte sich nichts verändert, er wollte gehen.
»Ja«, sagte sie. Als sie die Kellertreppe hinaufging, als alles wieder einmal nicht anders war wie so viele Jahre, dachte sie zornig, dass er alles buchstäblich zerredet hatte. Hätte erdoch bloß seinen Mund gehalten, diesen ewig sprechenden, flüsternden, erklärenden, dozierenden Mund. Warum hat er
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