Der Monat vor dem Mord
nicht in meinen Augen sehen können, was zu tun war? Er hätte mich doch einfach und ohne ein Wort nehmen müssen. Ich glaube, ich habe noch nie so schnell aus meinen Kleidern gewollt wie eben. Warum quält er mich so?
Zuweilen konnte Maria Horstmann sehr wissenschaftlich denken. Das war etwas, das ihr geblieben war. Aber es schmerzte, wenngleich es für kurze Zeit Selbstvertrauen gab. Wenn sie einmal all die kuriosen Wege in eine Gerade brachte, die Menschen ihrer Meinung nach gingen, so konnte es nur so enden: Ihr Mann würde fortgehen, auf eine höchst lapidare und undramatische Art und Weise fortgehen. Und es gab nur ein Mittel, das zu verhindern: Sie musste sein Leben teilen. Auch dann, wenn er es nicht mit ihr teilen wollte. Ich müsste ihn in die Hand bekommen, dachte sie verwirrt und verließ die Bahnen kühler Überlegenheit. Sie hielt es nie lange durch, kühl über ihr Leben nachzudenken. Es schmerzte zu sehr.
Horstmann hatte wieder einen der Nordamerikanischen Kiefernfresser auf dem Objektträger seines Mikroskops. Er war nicht gezwungen, das zu tun. Er tat es, weil er in diesem Moment nichts Besseres zu tun wusste. Er erinnerte sich an ihre Worte und an ihren merkwürdigen Gesichtsausdruck. Er dachte, dass es gut sei, Maria nicht angerührt zu haben, denn wahrscheinlich wäre sie wie immer angstvoll zurückgeschreckt, und er wäre insgeheim wütend geworden. So habe ich ungetrübt diesen Abend mit Ocker vor mir. Hoffentlich hat er alles auf Lager, was ich will. Ich will viel. Es wird Zeit, dass ich es bekomme. Diese Familie hemmt mich. Am meisten hemmt mich Maria. Es könnte so sein, wie sie neulich sagte: Ihr Herz könnte plötzlich aufhören zu schlagen. Ichwürde keine Trauer empfinden. Vielleicht zuweilen, aber keine langwährende und tiefe. Es ist vielleicht am besten, wenn ihr Herz aufhört zu schlagen. Ihr ist gedient, mir ist gedient.
Aber er war nicht sicher, ob das die Wahrheit war. Er fand seine Gedanken gemein. Aber war das nicht gemein? Es war doch nur ein klein wenig Egoismus nach zwanzig miesen, langweiligen Jahren mit Bausparverträgen.
Sabine rief, das Essen sei fertig. Horstmann drehte die Lampen aus und ging hinauf. Sie saßen schon am Tisch. Sabine machte ein mürrisches Gesicht, Harald sah schlecht aus, Marias Gesicht war ausdruckslos.
»Ich werde euch etwas sagen«, sagte Horstmann gutgelaunt. »Eure Mutter hat eine tolle Sache gemacht. Sie hat eine Formel gefunden, die ich vor lauter Arbeitseifer und Müdigkeit nicht gefunden habe. Es ist eigentlich schade, dass eure Mutter nicht in meinem Labor arbeitet.« Jeder Satz klang falsch und nach Heuchelei. »Ich habe versprochen, Mutter etwas ganz Besonderes zu schenken. Zwanzigtausend Mark.«
»Ich werde verrückt«, sagte Sabine.
»Ich will nicht«, sagte Maria blass.
»So was«, sagte Harald.
»Es muss sein«, sagte Horstmann. Er holte sein Scheckheft, schrieb den Scheck aus und gab ihn seiner Frau. Er murmelte: »Du kannst damit machen, was du willst.«
Es war, weiß Gott, kein Erfolg. Horstmann aß schnell zu Ende und setzte sich dann auf die Terrasse. Die Zeit verging viel zu langsam.
Maria kam hinaus und setzte sich zu ihm. Sie zerknitterte den Scheck zwischen ihren Fingern, »Warum hast du das getan?«
»Es war so abgemacht«, sagte er.
»Ich will es nicht.«
»Du wirst schon wollen«, sagte er. »Kleider, einen Pelz, Schuhe, Unterwäsche und so.«
»Warum soviel? Woher hast du das Geld?«
»Vom Chef«, sagte er. »Es ist die Belohnung für die Formel. Und die Formel war deine Idee.«
»Soviel zahlt er niemals«, sagte sie mit einer erschreckenden Hellsichtigkeit. »Vielleicht zahlt er fünftausend. Aber dreihundert Mark Gehalt mehr und zwanzigtausend Mark Prämie?«
»Traust du mir nicht?«, fragte er heiter.
»Nein«, sagte sie. »Ich weiß, dass es ungerecht ist, aber ich traue dir nicht. Du willst dich loskaufen mit diesem Geld.«
»Nein«, sagte er. Die Sache war vollkommen verpatzt.
»Du willst die Familie aufgeben«, sagte sie monoton. »Ich habe das schon seit langem gespürt. Aber ich werde es dir nicht einfach machen.« Sie stand auf und ging in die Küche.
Horstmann war sehr verwirrt, obwohl bei näherem Hinsehen Verwirrung nicht nötig war. Was sollte sie schon unternehmen können gegen ihn? Sie würde es letztlich nicht wagen.
»Du bist ein verrückter Typ«, sagte Sabine. »Erst tust du jahrelang so, als hättest du uns alle hängenlassen, und dann schenkst du Mama so viel Geld. Sie ist
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