Der Mond im See
hatte. Man verlangte meist Geld, und wenn es bezahlt wurde, fand sich manchmal das entführte Kind wieder. Manchmal auch nicht, und in vielen Fällen war es tot.
Die Wut, die ich schon gestern abend empfunden hatte, kehrte zurück. Ich hatte Lust, jemandem den Hals umzudrehen. Aber leider war das richtige Objekt für diese Gelüste, Renés Entführer, nicht zur Hand. Aber immerhin kannte ich sie: dieses Biest von einer Krankenschwester und der Mann mit der Sonnenbrille.
Heute mußte Renate erfahren, was geschehen war. Und dieser Gedanke machte mich noch elender.
Ich hielt es nicht mehr lange im Bett aus. Ich stand auf, machte mich fertig, dann trug ich Amigo die Treppe hinunter und in den Garten hinaus, für den Fall, daß er mal mußte. Er verstand genau, was er sollte, erledigte prompt und ganz vergnügt alles, was notwendig war.
Tante Hille, die auch schon aufgestanden war, fand sich dazu ein. »Es geht ihm ganz gut, wie?« fragte sie.
»Den Umständen entsprechend, würde ich sagen, ja.«
»Vielleicht wäre es besser, du machst ihm sein Lager hier unten im Wohnzimmer. Du brauchst ihn ja nicht jedesmal herunterzutragen. Und Gesellschaft hat er auch.«
So geschah es. Beim Frühstück war Amigo bereits zugegen. Er bekam eine Schale Milch und nachher ein Brötchen mit Butter, in kleine Bissen geschnitten, die Tante Hille ihm reichte und die er sehr manierlich aus ihrer Hand nahm. Wenn man bedachte, daß er vermutlich noch nie aus der Hand und auch nicht mit Butterbrötchen gefüttert worden war, benahm er sich erstaunlich. Er war ein Naturtalent und intelligent dazu, ich hatte es immer schon gesagt. Daß Tante Hille sich mit ihm verstand und er mit ihr, beruhigte mich. Sie würde sich um den Patienten kümmern.
»Er wird sich schnell erholen«, meinte Tante Hille befriedigt. »Den hat das Leben bisher nicht mit Glacehandschuhen angefaßt, und darum ist er nicht wehleidig.«
Das eine Brötchen genügte ihm, er legte sich wieder hin, seufzte tief auf und schloß die Augen. Er würde sich gesundschlafen. Mit der Tatsache, daß er, der unzivilisierte Wilde, Mitglied einer Hausgemeinschaft geworden ist, hatte er sich bereits abgefunden.
Ich rauchte gerade eine Zigarette und überlegte, was ich als nächstes tun sollte, da klingelte das Telefon. Kommissär Tschudi war am Apparat. Es war halb acht.
»Warum haben Sie mich nicht auf den Mann im Storchen' aufmerksam gemacht?« fragte er statt einer Begrüßung.
»Konnte ich denn ahnen …«
»Wissen Sie inzwischen, an wen Sie der Mann erinnert?«
»Nein.«
»Gehen Sie ins Schloß hinüber und hören Sie, ob es irgend etwas Neues gibt. Ich komme mit Herrn Baumer zu Ihnen hinaus. Und zwar nicht ins Schloß, sondern zu Ihnen. Ich möchte Sie sprechen. Sagen Sie aber niemandem, daß ich komme.«
Tante Hille versetzte diese Nachricht in große Aufregung. Daß ihr Haus zum Hauptquartier werden sollte, war mehr, als sie je erwartet hatte. Erst Monsieur Bondy – dann dies. Sie bekam rote Flecken auf den Wangen und schusselte aufgeregt in die Küche, um das Gretli zu präparieren.
Im Schloß sprach ich Ilona und Madame Hélène, die soeben aus Zürich eingetroffen war.
»Und was geschieht nun? Es muß doch etwas geschehen?« rief sie ganz außer sich.
Ich hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, was in so einem Fall geschieht. Die Polizei soll ausgeschaltet bleiben. Ob Wachtmeister Schnyder Meldung erstattet hat, weiß ich nicht, nehme es aber an. Was die Polizei unternehmen soll, ist mir schleierhaft.«
»Es ist Ihr Mann, glaube mir, Jacques Thorez. Ich habe gleich gesagt, sie hätten nicht hierherkommen sollen. Er hat das Kind entführen lassen.«
»Ich wäre froh, wenn es so ist«, sagte ich ernst. »Annabelle hält es für ausgeschlossen.«
»Ach, Annabelle! Sie hat noch nie Menschenkenntnis besessen. Walter! Es muß etwas geschehen.« Madame Hélène war sehr aufgeregt, sie schüttelte mich. »Ihr seid alle so ruhig.«
Ich blickte auf Ilona, die schweigend unserem Gespräch lauschte. Sie war sehr blaß und sah müde aus.
»Wir sind keineswegs ruhig, Madame«, sagte ich. »Keiner von uns. Aber was soll man tun? Eine große Fahndung einleiten? Dann hören und sehen wir nie wieder etwas von René. Was ist mit Renate? Weiß sie es?«
Ja, sie wußte es. Hedy Lötscher kam nach einer Weile ins Büro und erzählte mir, wie es Renate ging.
»Sie spricht kein Wort. Sie ist vollkommen erstarrt. Bis vor einer Stunde hat sie geschlafen, dann ist sie aufgewacht,
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