Der Mond im See
schon beibringen«, grollte der Sheriff und schoß einen grimmigen Blick zu dem kleinen Polizisten, der immer noch unter der Tür zu den anderen Räumen stand. Das einzige Opfer, das dem Sheriff im Moment geblieben war.
Jonny, der seine Bar inzwischen geschlossen hatte, gesellte sich plötzlich zu uns.
»Ist der Kleine wirklich verschwunden?« fragte er.
Ich schwieg und betrachtete ihn mit Mißtrauen. Der Kriminalrat hatte mich angesteckt. Jeder war verdächtig, er hatte ganz recht. Jeder. Und hatte Jonny vielleicht unser Gespräch an der Terrasse bemerkt?
Annabelle gab ihm Auskunft. Jonny nickte langsam. »Ich habe einen Blick für Menschen«, sagte er, »das bringt mein Beruf so mit sich. Die Krankenschwester kam mir immer komisch vor. Sie war nicht das, was sie vorgab zu sein. Ich meine, nicht nur beruflich. Das war keine alberne kleine Gans, wenn sie sich auch bemühte, so zu tun. Das ist ein ganz hartgesottenes Biest. Und ich hatte immer das Gefühl, als müsse ich sie kennen.«
»Jonny«, rief ich, »überlegen Sie gut!«
»Ich habe schon überlegt. Nicht erst heute. Ich komme nicht drauf. Ein Bild haben Sie nicht zufällig von ihr? Ich müßte das mir immerzu ansehen. Ich habe eigentlich ein gutes Personengedächtnis. Und ich weiß, daß ich das Biest kenne.«
Langsam löste sich unser trauriges Häuflein auf. Der Sheriff, ein geschlagener Mann, trollte sich mit seiner Hilfstruppe. Hedy würde bei Renate auf der Couch schlafen. Einer mußte bei ihr sein, wenn sie erwachte. Ruedi und ich trugen auf der Bahre den tiefschlafenden Amigo ins Gutzwiller-Haus. Tante Hille, die noch auf war, machte ihm eigenhändig ein weiches, gemütliches Lager in meinem Zimmer.
Später saß ich auf der Bettkante und betrachtete Renés kranken Freund. Jeden Abend war er bisher zu mir an die Haustür gekommen. Und jetzt lag er als Patient an meinem Bett. Unzivilisiert, wie zuvor, mitsamt seinen Flöhen und schmutzig. Und im Schloß hatte er auch Einzug gehalten. Er würde gesund werden, hatte der Ruedi gesagt.
»Und ich, Amigo«, versprach ich ihm, »werde alles tun, um deinen Freund wiederzufinden. Wenn er nur noch am Leben ist, Amigo. Und am Leben bleibt.« Ich merkte, daß ich die Hände gefaltet hatte, es war mir peinlich, aber es sah ja keiner. Ich dachte und sprach ja keine Worte. Ich fühlte sie nur. Aber wenn da einer war, den sie erreichen konnten, dann verstand er sie auch. Und auch meinen hilflosen Zorn darüber, daß man so gar nichts tun konnte.
Übrigens, mein Wagen hatte nicht unter dem Haselnußstrauch gestanden. Und ehe ich schließlich doch einschlief – versank wie ein Stein im Wasser –, dachte ich noch: Wie, um Gottes willen, soll der Kriminalrat eigentlich ins Hotel und in sein Bett kommen?
Weder noch, wie ich am nächsten Morgen erfuhr; er hatte bei Kommissär Tschudi gegen Morgen zwei Stunden auf einem Sofa geschlafen.
Als ich erwachte, ziemlich früh, wußte ich das noch nicht. Mein erster Blick fiel auf Amigo, der friedlich auf seinem Lager schlief. Das heißt – so fest schlief er offenbar nicht mehr, denn als ich mich regte, hob er seinen verbundenen Kopf und wedelte leicht mit dem Schweif.
Wir blickten uns einen Moment lang schweigend an.
»Na, alter Junge«, sagte ich, »wie geht es dir? Mir scheint, du bist noch einmal davongekommen.«
Er öffnete den Mund und hechelte ein wenig, er hatte Durst. Ich kletterte aus dem Bett, fühlte seine Nase. Sie war heiß und trocken. Sicher hatte er Fieber. Ob man ihm etwas zu trinken geben durfte? Ein wenig Wasser konnte nichts schaden. Ich holte mir aus der Küche eine Schüssel, tat Wasser hinein, nicht mehr als eine Tasse, und brachte es ihm. Als ich ins Zimmer kam, hatte er sich aufgerappelt und stand auf seinen vier Beinen. Ein wenig unsicher, aber er stand.
»Mal langsam, bleib lieber liegen.« Das Wasser war im Nu verschwunden, und er blickte mich erwartungsvoll an.
»Mehr gab es im Moment nicht. Später wieder. Leg dich noch ein bißchen hin.«
Auch ich kroch wieder ins Bett, denn es war erst sechs Uhr. Aber an Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken. Die Ereignisse des letzten Tages beschäftigten mich, ich zergrübelte mir den Kopf darüber, was ich tun könnte. Aber es fiel mir nichts ein. René war entführt worden, und wenn nicht sein Vater dahintersteckte, dann waren es echte Kidnapper, und somit befand sich das Kind in Lebensgefahr. Ich versuchte mich an alles genau zu erinnern, was ich je über entführte Kinder gelesen
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