Der Mond im See
machte.
Aber ich traf Madame de Latour bereits auf halbem Wege. In der Diele zeigte sie mir den Brief, der soeben mit der normalen Post gekommen war.
Ein Brief an Renate. Er lautete:
Madame, Sie kennen die Spielregeln. Ihrem Sohn geschieht nichts, er befindet sich in bester Obhut. Wir fordern eine Million Schweizer Franken, in kleinen und nicht neuen Scheinen, natürlich nicht fortlaufend numeriert. Wann und wo sie zu übergeben sind, werden Sie erfahren. Erwarten Sie weitere Nachrichten auf Schloß Wilberg. Ihr Mann wird gleichlautend verständigt. Falls Sie die Polizei hinzuziehen, werden Sie Ihren Sohn niemals wiedersehen.
Madame Hélène berichtete, daß Renate einen Nervenzusammenbruch erlitten habe. Ruedi sei bei ihr. Und Annabelle hatte gerade mit Paris telefoniert, um Jacques Thorez zu erreichen. Sie hatte nur mit seinem Bruder gesprochen. Jacques Thorez befand sich auf einer Geschäftsreise in den Vereinigten Staaten.
Renate bekam ich erst am Nachmittag zu sehen. Ich hatte allen Grund gehabt, mich vor dieser Begegnung zu fürchten. Sie hatte schon bisher nicht gerade wie das blühende Leben ausgesehen, war ernst gewesen und kummervoll. Aber jetzt bot sie ein einziges Bild des Jammers, obwohl sie sich redlich Mühe gab, sich zu beherrschen. Sie empfing mich oben in ihrem Zimmer, ihre Mutter war dabei und Madame de Latour. Renate saß in merkwürdig steifer Haltung in der Ecke des Sofas, ihr Gesicht war starr in dem Bemühen, ruhig zu bleiben. Aber als ich sie begrüßte und mich über ihre Hand beugte, als unsere Blicke sich dann trafen, bebten ihre Lippen, und ihre Fingernägel gruben sich wie im Krampf in meine Hand.
Ich hatte vorher nicht gewußt, was ich ihr sagen wollte, es war so schwer, die richtigen Worte zu finden, es gab ja gar keine richtigen Worte in diesem Fall – aber jetzt sagte ich hastig, ohne zu überlegen: »Renate! Ich will alles tun, alles, um ihn wiederzufinden.«
Aber das war natürlich lächerlich, und sie wußte es.
»Sie können gar nichts tun«, sagte sie. »Niemand kann etwas tun. Und keinesfalls die Polizei. Das wissen Sie doch?«
»Ja, natürlich, ich weiß es.«
»Aber sie haben mit der Polizei gesprochen. Warum haben Sie das getan? Madame de Latour hat den Brief mitgenommen. Wenn die Polizei – wenn sie – dann werden sie ihn töten.« Ihre Stimme brach in einem Schluchzen.
»Ich habe den Brief wieder mitgebracht«, sagte ich. »Hier ist er. Die Polizei mußte davon erfahren. Sie haben ja sicher gehört, daß wir gestern abend nach René gesucht haben. Mit Hilfe der hiesigen Polizei. Und der Postenchef von Wilberg hat natürlich Meldung erstattet. Das mußte er tun.«
»Er mußte gar nichts tun. Nur eins: René nicht gefährden.«
»Kommissär Tschudi weiß genau, was auf dem Spiel steht. Ich glaube, Sie kennen ihn nicht. Aber Madame de Latour wird Ihnen bestätigen, daß er ein tüchtiger und besonnener Beamter ist. Kein blindwütiger Draufgänger. Er weiß genau, daß er nicht in Erscheinung treten darf. Und alle Ermittlungen, die er anstellt, gehen ganz vorsichtig und ohne jede Publikation vor sich. Er hätte Sie gern einmal gesprochen.«
»Ich will ihn nicht sprechen. Dieser andere wollte mich schon sprechen, dieser Kriminalrat, der hier wohnt. Ich bin für niemanden zu sprechen. Und ich kenne den Kommissär, er hat mich ja wegen dieser – dieser Schwester befragt. Ich kann dazu nicht mehr sagen, als ich schon gesagt habe.«
»Wir brauchen den Namen und die Adresse derjenigen Schwester, die Sie ursprünglich engagiert hatten«, sagte ich. »Man muß nachprüfen, woher Dorette kam.«
»Von mir werden Sie nichts erhalten. Ich warte auf Nachricht. Und dann muß ich mir aus Paris das Geld beschaffen. Die Polizei hat hierbei nichts zu tun.«
Sie nahm den Brief des Erpressers, den ich auf den Tisch gelegt hatte, und schloß ihre zitternden Finger darum.
»Dieser Brief ist in Basel aufgegeben. Das Telefongespräch gestern abend kam ebenfalls aus Basel. Aber das will nichts heißen. Das kann eine falsche Spur sein.«
»Es ist ja so leicht«, flüsterte sie, »so leicht – ein Kind irgendwo zu verstecken. In einem Keller – sie können ihn betäuben. Sie können ihn schlagen, wenn er schreit – sie können …« Verzweifelt weinend legte sie ihren Kopf auf die Sofalehne.
Ich schluckte. Ich fühlte, wie meine Augen voller Tränen standen. Herrgott, all dies sinnlose Geschwätz. Man konnte nichts tun. Renate hatte ganz recht – man konnte nur
Weitere Kostenlose Bücher