Der Mond im See
sagten nichts dazu, weder Madame Hélène noch ich. Hoffentlich behielt er recht. Nicht immer bekam man das Kind lebend wieder, auch wenn das Geld gezahlt wurde. Das wußten wir alle. Und das wußte gewiß auch Jacques Thorez. Ich sah, wie es in seinen Augen leidenschaftlich aufflackerte, und ich hätte nicht in der Haut der Entführer stecken mögen. Eines war gewiß, wenn René wirklich etwas passierte, Jacques Thorez würde wahrmachen, was er angekündigt hatte: Er würde sie jagen bis ans Ende der Welt und, wenn es sein mußte, mit eigener Hand erwürgen. So ein Mann war er.
Aber gleich hatte er sich wieder in Gewalt, lächelte verbindlich, machte eine Verbeugung vor Madame Hélène, dann ein liebenswürdiges Nicken zu mir hin. »Sie entschuldigen mich für diesen Abend? Ich möchte mich heute ganz Madame widmen. Ich glaube, sie braucht Trost und Hilfe.«
Madame Hélène sah mich an und sah ihm dann nach, als er aus dem Büro ging. Dann nickte sie anerkennend.
»Nicht schlecht«, sagte sie. »Den hätte ich auch geheiratet. Sogar ohne Millionen.«
Am nächsten Morgen, es war Mittwoch – drei Tage waren seit Renés Verschwinden vergangen –, hatten wir alle gehofft, würden sich die Entführer wieder melden. Aber nichts geschah. In den Zeitungen erschienen großaufgemachte Berichte. ›Millionenerbe von Kidnappern entführt‹ – ›Neuer Fall von Kidnapping in Europa‹ – ›Freies Geleit für Kidnapper‹, und was dergleichen Schlagzeilen mehr waren, die der mehr oder weniger interessierten Welt von dem letzten Verbrechen berichten. Wir hier draußen sahen ja nur einen Teil der Zeitungen, aber es stand wohl in allen so ziemlich das gleiche.
Annabelle, der Amerikaner und ich ritten am Morgen zusammen aus, nicht weil uns nach vergnügter sportlicher Betätigung zumute war, sondern weil die Pferde bewegt werden mußten. Natürlich sprachen wir die ganze Zeit von nichts anderem als von der Entführung. Ich beobachtete dabei den Amerikaner scharf. Aber das war reichlich lächerlich von mir. Nicht jeder Amerikaner beschäftigte sich in seiner Freizeit mit Kidnapping, und dieser hier, wenn er wirklich so ein Krösus war, kam ohnehin nicht in Frage. Sicher war sein Kommen und Gehen inzwischen von der Polizei genauestens überprüft worden.
»Es dauert schon zu lange«, meinte Bill Jackson düster. »Sie hätten sich melden müssen. Sicher lebt der Junge nicht mehr.«
Ich schwieg dazu. Ich hatte keine Erfahrung in diesen schlimmen Dingen, und es ging gleichzeitig über meine Nervenkraft, Renés geringe Chancen mit irgend jemand zu diskutieren.
Im Stall hatte übrigens der angestammte Peter seine Arbeit wieder aufgenommen. Er wurde im Laufe des Tages über seinen Unfall sowohl von Herrn Baumer wie von diesem Mann aus Paris nochmals befragt. Etwas Neues kam dabei nicht heraus. Der Tag verging mit Warten. Mit lähmendem, quälendem Warten. Renate bekam ich nicht zu Gesicht. Ich hörte von Annabelle, daß sie etwas ruhiger geworden sei. Aber vernünftig reden konnte man mit ihr natürlich nicht. Und Jacques gäbe sich riesige Mühe um sie.
»Er ist reizend zu ihr«, sagte Annabelle, und es klang fast ein wenig neidisch. »Man sollte es nicht für möglich halten, aber Renés Entführung scheint ihre Ehe wieder zu kitten.«
»Ein teurer Preis, den sie dafür bezahlen muß«, meinte ich.
»Nun warte erst mal ab, vielleicht kommt der Junge heil wieder. Und die Million tut einem Thorez nicht weh.«
»Ja, ich erinnere mich, das hast du schon mal gesagt. Aber die Million, wehgetan oder nicht, garantiert leider überhaupt nichts. Schon gar nicht das Leben des Kindes.«
»Ach, höre auf, du machst mich ganz nervös. Alle sind so pessimistisch. Bill redet so dunkel drumherum, und mit Yves kannst du überhaupt nicht mehr sprechen, der benimmt sich, als habe man sein eigenes Kind entführt. Ich kenne ihn überhaupt nicht wieder. Ich hätte ihm nie soviel Emotionen zugetraut.«
Ich auch nicht, dachte ich im stillen und beschloß wieder einmal, in Zukunft mit meinem Urteil über andere Leute vorsichtiger zu sein.
Der einzige, von dem es Gutes zu melden gab, war Amigo. Er war ein braver und geduldiger Patient, und man konnte direkt zusehen, wie es ihm stündlich besser ging. Der Ruedi hatte ihn noch einmal besucht und festgestellt, daß die Stichwunde an der Brust gut heilte und auch die Platzwunde auf dem Kopf keinerlei Sorgen mehr machte. Der große Verband, der Amigo ähnlich einem Turban bisher geziert hatte
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