Der Mond im See
Nein, dieser Bondy hat mir nicht gefallen.«
»Bondy hieß er?«
»Ja. Charles Bondy.«
»Na schön, aber weil der junge Mann nicht dein Typ ist, brauchst du ja nicht gleich zur Polizei zu gehen. Warum bist du denn so böse auf ihn?«
»Weg ist er. Seit fünf Tagen schon, und ohne zu bezahlen.«
»Hm.« Ich unterdrückte ein Grinsen. Das gehörte wohl auch zu den Erfahrungen, die man mit der Gastronomie machen mußte.
Aber Tante Hille war sehr empört. »So etwas gehört sich nicht.« Damit hatte sie zweifellos recht.
»Und sein Gepäck? Hat er das mitgenommen? Vielleicht ist ihm etwas passiert?«
»Dem ist nicht passiert. Das Auto hat er mitgenommen und das Gepäck. Nur ein Paar alte schmutzige Socken sind dageblieben. Wer hätte so etwas denn gedacht? Er war immer sehr höflich. ›Guten Morgen, Madame, haben Sie gut geschlafen?‹ sagte er, wenn er mich morgens traf.«
Monsieur Bondy beschäftigte Tante Hille sehr. Ich mußte mir die erste große Enttäuschung in ihrer Laufbahn als Hotelleuse noch eine Weile anhören. Auch das Gretli wurde als Zeuge gerufen. Sie schimpften gemeinsam auf den Ausreißer, und ich mußte natürlich einen zustimmenden Kommentar geben.
Auf diese Weise wurde es sechs Uhr. Ich bezog mein Zimmer, eben jenes, das Herr Bondy so schnöde und unbezahlt verlassen hatte, packte meine Koffer aus, assistiert von Tante Hille und dem Gretli, und verkündete dann, daß ich einen kleinen Spaziergang machen wolle. Mal schauen, wie es hier so aussehe.
»Gehst du ins Schloß?« wollte Tante Hille wissen.
»Nicht gleich heute. Es eilt ja nicht so. Wissen sie, daß ich komme?«
»Ich hab's der Madame erzählt. Sie ist sehr gespannt darauf, dich zu sehen.«
Ich war versucht zu fragen: Und Annabelle? Ist sie auch gespannt darauf, mich zu sehen? Aber ich unterdrückte diese Frage. Das war alles noch so ungeordnet in meinem Kopf. Daß Annabelle hier war, daß ich ihr begegnen würde, nach zehn Jahren, daß sie geschieden war, daß sie … nein, erst mußte man einmal fragen: Wie würde sie jetzt sein? Eine unglückliche junge Frau, einsam und betrübt. Trostbedürftig am Ende. Ich mußte unbedingt erst einmal darüber nachdenken, mußte mich überhaupt erst an die neue Situation gewöhnen, ehe ich ihr gegenübertrat.
Ich verließ das Haus, schlenderte ein Stück die Straße entlang, was mir jedoch wenig Vergnügen machte. Früher konnte man das Stück Landstraße vom Gutzwiller-Haus bis in den Ort hinein, ein Weg von etwa zehn Minuten, ganz gemütlich entlanggehen. Das Automobil war zwar schon erfunden vor zehn Jahren, und man fuhr auch hier damit. Aber, du lieber Himmel, wie oft, wie schnell kam so ein Ding. Es war kaum der Rede wert. Jetzt brausten sie ununterbrochen an mir vorbei, scheuchten mich an den äußersten Straßenrand und verpesteten die schöne abendliche Juniluft. Dabei war es so ein herrlicher Tag.
Der Himmel war seidenblau, so weit das Auge reichte. Die Sonne stand drüben überm See bereits nahe dem Hügelkamm, aber noch wärmte sie das Tal so eifrig, daß ich die Jacke auszog und um die Schultern hängte. Fast bekam ich Lust auf ein Bad im See. Wie war das eigentlich, konnte ich nun im Bad des Schloßhotels noch baden, oder blieb das den feinen Leuten vorbehalten, die dort wohnten? Fragen würde ich nicht danach. Wenn sie es mir nicht von selber anboten, fand ich auch einen anderen Platz. Obwohl, das sah ich bereits von hier oben, das Ufer immer noch so verschilft war wie früher. Schließlich hatte die Dorfjugend zu jeder Zeit ihren Badeplatz gehabt. Und die beiden hölzernen Badeanstalten Männer – Frauen waren auch noch da, das hatte ich bereits erspäht.
Kurz ehe die ersten Häuser des Ortes kamen, stieg ich den Hang hinab zum Gemüseland. Früher in uralten Zeiten hatte der See sicher einmal das ganze Tal zwischen den Hügeln ausgefüllt. Es war Schwemmland da unten, fruchtbarer, guter Boden, der nun die nördliche Spitze unseres Tales bildete. Hier gab es Kornfelder, und vor allem Gemüsefelder und Obstbäume. Früher schon, und auch heute noch. Ich ging gemächlich auf den Wiesenwegen zwischen den Feldern entlang. Hier und da arbeiteten Leute, aber ich sah keinen, den ich gekannt hätte. Und keiner kannte mich. Vermutlich hielten sie mich für einen Gast aus dem Schloßhotel. Sie blickten nicht auf, wenn ich vorbeiging.
Nahe dem See gingen die Felder in Wiesen über, durchflossen von einem schmalen Bach. Ich ging am Bach entlang, kam bis zu dem Weg, der an den
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