Der Mond im See
Weidenbüschen entlang dem Bogen des Ufers folgte und auf dem man – früher jedenfalls – bis in den unteren Teil des Schloßparks gelangen konnte.
An einer Stelle war das Ufer frei, kein Gesträuch, kein Schilf, ich blieb stehen, blickte ins Wasser, bückte mich und hielt die Hand hinein. Warm, wunderbar warm. Aber mich einfach ausziehen und ins Wasser springen, das ging hier nicht. Schließlich war ich in der Schweiz. Zumindest hätte ich mir eine Badehose mitnehmen müssen. Aber sicher durfte man sich auch nicht einfach so im Freien ausziehen. Das hatten wir in Deutschland gemacht, dort störte sich niemand daran. Aber hier – lieber nicht.
Ich drehte mich wieder um, drehte dem See den Rücken zu, überblickte die Felder und Wiesen, sah rechts oben auf dem Hang den Turm und ein Stück Dach des Schlosses und links, ebenfalls erhöht liegend, den Ort Wilberg mit seinen neuen und alten Häusern. Und dahinter, noch höherliegend als Ort und Schloß, den waldbewachsenen Hügelkamm, der genau wie im Westen unser Tal gegen die Außenwelt abschirmte. Eine geschlossene kleine Welt. Wirklich ulkig, daß man sie für den Fremdenverkehr entdeckt hatte.
Und dann sah ich noch etwas. Von scharf links her, über die Wiese, die gerade vor mir lag, kam ein Reiter auf einem galoppierenden Pferd. Eine Reiterin, wie ich gleich darauf an dem wehenden blonden Haar erkannte. Und da wußte ich auch schon, wer es war.
Annabelle! Sie saß im leichten Sitz, den Kopf über den Hals des Fuchses gebeugt, da kam der kleine Bach, ich hörte ihren hellen Ruf, mit dem sie das Pferd antrieb, es sprang in weitem Satz darüber, sie nahm die Zügel etwas auf, parierte nach einer Weile durch und trabte dann, nun rechts von mir, auf dem Weg weiter, auf dem ich stand. Der Weg, der also offensichtlich immer noch in das Schloß führte.
Ich blickte ihr nach. Sah ihr Haar, leuchtend goldblond wie früher auch, die schlanke, zarte Gestalt in der weißen Bluse und der grauen Hose, wie sicher und elegant sie zu Pferde saß. Nur ihr Gesicht hatte ich nicht gesehen.
Aber ich würde es sehen. Bald. Morgen. Und warum nicht heute? Zögernd folgte ich ihr auf dem Weg, der am See entlangführte. Ein Stück wenigstens. Würde ich den Schloßpark betreten? Heute? Morgen? – Mein Gott, Annabelle!
Sie war frei. Sie hatte keinen Menschen mehr. Sie hatte keine Kinder. Wie lange war ich fortgewesen? Zehn Jahre? Weit in der Welt draußen. Und jetzt stand ich hier und jetzt ging ich hier, genauso verzaubert und verwirrt wie damals der neunzehnjährige Junge, der nichts anderes denken konnte als: Annabelle!
Ich war dreißig Jahre alt. Und ich war ein Mann. Und ich hatte andere Frauen geliebt inzwischen. Ich würde heute nicht ins Schloß gehen. Vielleicht morgen. Vielleicht. Aber ich ging langsam weiter auf dem Weg, der am Ufer des Sees entlangführte, zwischen den Weidenbüschen und den Wiesen, der Weg, auf dem kurz zuvor Annabelle getrabt war. Ich sah sie noch vor mir, obwohl sie längst verschwunden war.
Der Weg verengte sich, der Durchschlupf in den Schloßpark war schmal wie früher auch. Unter den hohen alten Bäumen war es schon ein wenig dämmerig. Ich blieb stehen und lauschte. Tiefe Stille. Kein Hufschlag mehr. Doch jetzt – eine helle Mädchenstimme, dann helle schmetternde Schläge. Was war das? Ach ja, natürlich, irgendwo in der Nähe wurde Tennis gespielt. Ich ging langsam weiter.
Die beiden Tennisplätze lagen links von mir, auf das Schloß zu, hinter ihnen stieg die Mauer, die die Terrasse und den Schloßgarten begrenzte, steil auf. Ich ging den kleinen Pfad hinauf, der an den Tennisplätzen vorbeiführte. Beide Plätze waren besetzt, die Spiele in vollem Gange. Der Pfad bog nach links, näherte sich den Wirtschafts- und Stallgebäuden.
Der Pferdestall befand sich noch immer am alten Platz. Ich blieb unter den letzten Bäumen stehen und spähte hinaus. Von Annabelle nichts mehr zu sehen. Ein ausnehmend wohlgestalteter junger Mann kratzte der Fuchsstute die Hufe aus. Neben ihm an der Stalltür lehnte ein zierliches blondes Wesen in einem hellblauen Leinenkleid, mit weißer Schürze und weißem Häubchen und flirtete offensichtlich mit ihm.
Eine Krankenschwester? Ein Kinderfräulein? Und dieser hübsche junge Mann, war das etwa der Pferdepfleger?
Ich trat langsam näher. Das weiße Häubchen warf mir einen flüchtigen Blick zu, der junge Mann blickte nicht auf.
»Grüezi miteinand«, sagte ich.
»Grüezi«, zwitscherte das Häubchen und
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