Der Mond im See
im Rollstuhl.«
»Sind die Eltern tot?«
»Nein. Warum sollen sie tot sein?«
»Weil ich immer bloß etwas von der Großmutter höre.«
»Ich glaube, die Eltern sind geschieden. Er war bis vor kurzem in einer Klinik, wo er behandelt wurde. Jetzt soll er mal eine Zeitlang Ruhe haben, weil er so dünn und schwach geworden ist.«
Als wir mit dem Essen fertig waren, ging Tante Hille zum Fenster. Es war jetzt ganz dunkel draußen.
»Ich glaube, er ist nicht mehr da«, sagte sie.
»Schade, ich hätte ihm gerne etwas zu fressen gebracht.«
Aber als ich eine halbe Stunde später vor die Tür trat, um nach dem Mond zu sehen und ein paar Schritte in den Garten zu gehen, lag der Hund unter dem Haselnußbaum. Er stand auf, als ich kam, und wedelte.
»Da bist du ja. Warte einen Moment.«
Ich brachte ihm eine große Schüssel, die Tante Hille ihm persönlich zurechtgemacht hatte. Ich stellte die Schüssel neben die Tür, dann ging ich in den Garten.
Als ich wiederkam, war die Schüssel leer. Der Hund schlapperte Wasser aus der Regentonne.
»Hat es geschmeckt? Das freut mich! Und wo wirst du schlafen?«
Ich entschied mich für das Gartenhäuschen. Es war unverschlossen, ich öffnete einladend die Tür, fand auch einen alten Sack, den ich auf dem Boden ausbreitete. Eine Weile redete ich Amigo gut zu, aber er war nicht zu bewegen, das Gartenhäuschen zu betreten. »Na mach, was du willst. Ich lasse dir die Tür offen. Du kannst es dir ja noch überlegen. Gute Nacht!«
Im Wohnzimmer saßen die beiden Damen friedlich vereint vor dem Fernsehgerät.
»Ein Krimi«, flüsterte Tante Hille. »Wo bleibst du denn so lange? Sehr spannend.«
Ich seufzte. Mir blieb auch nichts erspart. Ich setzte mich, streckte die Beine von mir, zündete mir eine Zigarette an und dachte an Annabelle. Morgen würde ich mit ihr sprechen.
Aber so leicht war es offenbar nicht, mit Annabelle zusammenzutreffen. Am nächsten Vormittag war sie nicht da. Ich hatte etwas herumgetrödelt, schließlich konnte ich nicht schon in aller Herrgottsfrühe meine Visite im Schloß machen. Ich streifte also durchs Haus, vom Keller bis zum Boden, besah mir alle Zimmer, bis auf das eine natürlich, in dem das Ehepaar Kugler aus Frankfurt am Main logierte. Die schliefen lange und verließen gegen halb zehn ihr Zimmer, er in Shorts, sie in schicken langen Hosen, die etwas straff um den wohlgerundeten Wirtschaftswunderpopo saßen, um hinüber ins Hotel zum Frühstück zu gehen. Mich hielten sie wohl für einen neuen Gast, grüßten mich freundlich und teilten mir mit, daß das Wetter ganz fantastisch sei.
»Eine echte Hochdrucklage«, meinte Herr Kugler. »Das hält noch eine Weile an.«
»Beschrei es bloß nicht, Otto«, sagte Frau Kugler und klopfte beschwörend auf das Treppengeländer.
»Eigentlich alles wie früher«, sagte ich, als ich nach meinem Rundgang durch das Haus unten in der Küche landete, wo Tante Hille dabei war, die Einkäufe zu inspizieren, die das Gretli gemacht hatte. »Aber warum ist das Apfelkammerli abgeschlossen? Hast du Angst, deine Gäste klauen dir die Äpfel?«
»Gretli hat den Schlüssel verloren. Ich kann schon seit drei Tagen nicht hinein. Ich wollte dir heute früh ein Glas Quittenmarmelade holen. Die magst du doch so gern.«
»Ich hab' den Schlüssel nicht verloren«, verteidigte sich das Gretli. »Er hat doch immer gesteckt. Warum sollte ich ihn wegnehmen?«
»Wo ist er dann? Er hat doch schließlich keine Beine.«
»Ich weiß auch nicht, wo er ist. Weg ist er.«
»Eben.«
»Dann werde ich halt mal probieren, ob ein anderer paßt«, sagte ich.
»Es paßt kein anderer.«
»Ich werd's schon aufbringen.«
Aber da ich schon gefrühstückt hatte, erschien mir die Angelegenheit nicht so dringlich.
»Ich geh jetzt mal hinüber.«
»Das tu. Aber begrüße zuerst die Madame.« Tante Hille überflog mit einem scharfen Blick meine Erscheinung, genau wie früher auch. Hätte bloß noch gefehlt, daß sie gefragt hätte, ob ich saubere Hände habe.
»Ziehst du keinen Schlips an?«
»Warum denn das? Dieser Mops hier eben ging sogar in Shorts. Da werde ich doch wohl noch ein offenes Hemd tragen dürfen.«
Tante Hille brabbelte etwas Unverständliches vor sich hin. Es lag ihr offenbar daran, mit mir Ehre einzulegen.
»Frag die Madame, wann ich sie heute einmal sprechen kann. Ich will doch zur Polizei gehen wegen dieses Filous, der, ohne zu zahlen, weggefahren ist. Dieser Monsieur Bondy. Aber vielleicht will die Madame das selbst
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