Der Mond im See
Darüberspazieren. Dazu einen guten Freund, mit dem man reden und einen trinken konnte, und ein paar hübsche junge Frauen waren auch schon in meinem Gesichtskreis aufgetaucht.
Das brachte meine Gedanken wieder auf Annabelle. Ob ich sie wirklich heute zu sehen bekam? Madame Hélène hatte gesagt, wir würden zusammen zu Abend essen. War das ernst gemeint gewesen?
Tante Hille, geschmückt mit dem gelben breiten Strohhut, befand sich im Garten. Und bei ihr, graziös an den Stamm eines Apfelbaums gelehnt – Annabelle.
Als ich die letzten Schritte über den Rasen auf sie zuging, klopfte mir das Herz oben im Hals. Wie schön sie war, wie zauberhaft schön! Irgendwas Lichtblaues hatte sie an, der weite Rock ließ freigebig ihre schlanken Beine sehen, das Haar, goldblond, weich und seidig, fiel ihr fast bis auf die Schultern, ihre großen blauen Augen blickten mir ernsthaft entgegen. Ein lebendig gewordener Traum – ich hatte es ja gewußt. Nirgends in der ganzen Welt, und wenn ich sie von Ost bis West und von Nord bis Süd durchreiste, würde ich ein süßeres Mädchen finden als Annabelle. Ich hatte sie damals geliebt, ich hatte sie nie vergessen, und ich liebte sie auch heute noch. Das war mir klar, noch ehe wir ein Wort miteinander gesprochen hatten.
Ich sagte gar nichts, nahm ihre Hand, die sie mir entgegenstreckte, hielt sie einen Augenblick in meiner, sah ihr in die Augen, dann beugte ich mich über die schmale Mädchenhand und küßte sie.
Ja, ein Mädchen war sie, keine Frau. Noch immer. Nichts hatte sich verändert, sie hatte auf mich gewartet, und ich war gekommen, um sie endlich für mich zu gewinnen.
Ich muß sie wohl sehr ernst, sehr sprechend angesehen haben. Denn Annabelle errötete ein wenig und lächelte zaghaft, als unsere Blicke sich wieder trafen.
Tante Hille räusperte sich und rückte ihren Strohhut etwas tiefer in die Stirn.
Annabelle blickte zu ihr hinüber, ihr Lächeln vertiefte sich.
»Gut schaut er aus. Sie haben recht, Tante Hille. Ein Mann, mit dem man sich sehen lassen kann.«
Ich ließ Annabelles Hand los und lachte verlegen. »Hat sie das gesagt? Kaum zu glauben.«
»Hab' ich nicht so direkt gesagt«, murmelte Tante Hille und griff wieder nach der Gartenschere.
Annabelle lachte auch, löste sich vom Apfelbaum und trat neben mich.
»Nicht so direkt, aber deutlich genug. Fein, daß du da bist, Walter.«
»Viel feiner noch, daß du da bist. Überhaupt und jetzt hier. Bist du am Ende meinetwegen herübergekommen?«
»Natürlich. Nachdem ich dich nicht zu sehen bekam, mußte ich doch mal schauen, wo du steckst.«
»Ich hab' dich schon gesehen. Gestern.«
»Gestern?«
»Ja. Unten auf der Wiese am See. Da bist du an mir vorbeigaloppiert.«
»Ach, mit Chérie. Ist sie nicht süß?«
»Ja. Sie auch. Ich bin euch nachgegangen, aber ich traf nur noch Chérie. Dich nicht mehr.«
»Warum bist du nicht hinaufgekommen?«
Ich hob die Schultern und schwieg.
»Deine Sehnsucht, mich wiederzusehen, kann nicht sehr groß gewesen sein.«
»Ich hab' mich nicht getraut«, sagte ich. »Aber heute morgen war ich da.«
»Hélène hat mir's erzählt. Und jetzt kommst du mit hinüber. Wir essen zusammen. Und du mußt mir alles erzählen.«
»Was alles?«
»Alles von dir.«
Wir waren beide ein bißchen befangen. Zehn Jahre ließen sich nicht so leicht überbrücken.
»Ich muß mich noch umziehen.«
»Große Gala ist nicht nötig.«
»Grauer Anzug genügt?«
»Genügt.«
»Ich beeile mich.«
»Gut. In einer halben Stunde an der Bar, ja?«
Zuerst kletterte ich in die Badewanne, dann rasierte ich mich, dann suchte ich nach meiner elegantesten Krawatte und dem weißesten Hemd. Und ich freute mich.
Ehe ich ging, präsentierte ich mich Tante Hille.
Sie nickte befriedigt.
»Sie ist genau wie früher«, sagte ich. »Nicht?«
»Darauf würde ich mich nicht allzu fest verlassen«, meinte Tante Hille.
»Ob sie …?«
»Was?«
»Ach, nichts. Erst mal sehen.«
»Na da«, sagte Tante Hille bedeutungsvoll hinter mir her, als ich loszog.
Die Bar befand sich im Ostflügel, anschließend an das Restaurant. Ein schwarzhaariger Adonis begrüßte mich wie einen alten Freund und wies mit großer Geste auf die geöffneten Türen zur Terrasse hin.
»Voilà, Monsieur. Madame erwartet Sie.«
An einem der kleinen runden Tische, die draußen standen, saß Annabelle. Sie hatte sich ebenfalls umgezogen, trug ein ärmelloses weißes Kleid mit tiefem Dekolleté. Das Weiß des Kleides, die samtene
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