Der Mond im See
lese dir vor.«
»Ja, Großmama«, sagte René artig. »Aber …«
»Ich weiß schon, du willst bloß wieder diesen garstigen Hund treffen. Es ist nicht gut, wenn er sich so an dich gewöhnt, René. Wir bekommen ihn dann gar nicht mehr los.«
»Ich will ihn ja auch nicht losbekommen«, murmelte René.
»Was wird deine Mami sagen, wenn sie herkommt, und du hast diesen schmutzigen Hund bei dir? Du weißt doch, daß Mami heute kommt.«
»Ja, ich weiß.« Es klang nicht übermäßig begeistert. Die Gesellschaft des Hundes schien dem Jungen lieber zu sein.
Madame Hélène legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht sollte er einen hübschen kleinen Hund als Spielgefährten bekommen«, sagte sie. »Was meinst du, René?« Und zu der Großmama gewandt: »Hier in der Nähe ist ein Zwinger, da züchten sie reizende Zwergpudel. Wäre das nicht etwas?«
»Ich will keinen anderen Hund«, sagte René entschieden. »Ich will meinen Amigo.«
Die Großmama seufzte. »Komm jetzt, wir legen uns ein bißchen hin. Ich habe ein schönes Buch für dich mit.«
Die alte Dame nickte mir zu, René sah mich nicht mehr an. Offensichtlich hatte er von mir Unterstützung erwartet, Amigo betreffend. Vielleicht hätte ich sagen sollen, das sei ein großartiger Hund, und einen besseren fände man weit und breit nicht. Irgend so etwas. Wenn man einen kleinen Jungen zum Freund haben will, muß man auch für dessen Freunde eintreten.
»Annabelle ist nach Zürich gefahren?« fragte die alte Dame noch, ehe sie weiterging. Und die Gräfin antwortete: »Ja, schon heute morgen. Ich denke, daß sie am Nachmittag hier sein werden.«
Wir blickten den beiden nach, dann sagte Madame Hélène: »Traurig mit dem Kind, nicht? So ein hübscher Junge.«
»Es sei ein Autounfall gewesen, erzählte er mir gestern abend.«
»Ja. Er hatte beide Beine gebrochen und ein paar Rippen, und eine Lungenquetschung – das war wohl das Schlimmste. Es ist ein Wunder, daß er noch lebt. Er ist sehr schwach, das siehst du ja. Und das Herz ist auch angegriffen, wohl durch die lange Behandlung und die ganze Aufregung. Der Arzt kommt jeden Tag und schaut nach ihm. Er bekommt Spritzen und Massagen und was weiß ich noch alles. Sie haben immer Angst, daß er eines Tages zusammenklappt. Er soll auch schon vor dieser Geschichte kein sehr kräftiges Kind gewesen sein.«
»Wäre er da nicht in einem Krankenhaus oder in einem Sanatorium besser aufgehoben?«
»Da war er bis vor kurzem. Heute kommt seine Mutter. Sie ist es, die Annabelle am Flugplatz abholt. Aber das soll keiner wissen.«
»Aha«, sagte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, worum es sich handelte. »Warum diese Geheimnistuerei? Hat das Kind auch einen Vater?«
»Das ist es ja eben. Er war schuld an dem Unfall. Er war betrunken, verstehst du? Ihm selber ist nicht viel passiert. Aber der Junge eben – und Renate, das ist die Mutter des Kindes, Renate hat ihm die ganze Sache nicht verziehen. Sie leben in Scheidung. Und sie streiten um das Kind. Er will das Kind behalten. Und sie natürlich auch. Es ist eine sehr unangenehme Affäre. Und es muß in letzter Zeit viel Aufregung und Ärger in dieser Familie gegeben haben. Ich weiß nicht viel darüber. Ich kenne Renés Mutter noch nicht. Und René kenne ich auch erst seit vierzehn Tagen, seit er hier ist mit seiner Großmama. Erst wollte Renate nicht kommen, sie haben extra eine Krankenschwester für das Kind engagiert. Die alte Dame ist auch nicht recht auf der Höhe und sehr mitgenommen von der ganzen Sache. Aber nun kommt sie doch. Sie will unbedingt bei dem Jungen sein, was ja auch verständlich ist.«
»Natürlich«, sagte ich, »und warum sollte sie auch nicht?«
»Na ja, eben wegen ihres Mannes. Sie will vermeiden, mit ihm zusammenzutreffen. Er soll möglichst nicht wissen, wo sie ist.«
Ich fand das ja ein wenig albern. Wer weiß, was für eine überdrehte Schraube das nun wieder war, diese Mutter von René.
»Es war Annabelles Idee, daß sie hierherkommen sollten. Sie ist mit dieser Renate befreundet. Sie ist Deutsche. Er Franzose. Ein sehr reicher Mann, eine bekannte Familie. International bekannt. Du kennst den Namen sicher auch.«
Vielleicht dachte sie, ich würde fragen, aber ich fragte nicht. Interessierte mich nicht sonderlich. Meine Aufgabe war es, Amigo zu finden.
Madame Hélène seufzte, als ich von dem Hund sprach.
»Erst war der Kleine so folgsam. Blieb in seinem Liegestuhl oder ließ sich von der Krankenschwester im
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