Der Mond ist nicht genug: Roman (German Edition)
Aber abgesehen davon konnte sie nichts weiter sehen als Wests Fackel, der sie dichtauf folgte.
»Es war dieses Heulen. Das hat mich aufgeweckt.«
Sie konnte es immer noch hören. Leise und traurig. Unmenschlich und erbarmungswürdig.
»Das kann sein«, sagte West. »Du hast wahrscheinlich Fenris’ Schmerz gehört. Du musst eine empathische Seele sein, Nummer Fünf.«
Diana war immer davon ausgegangen, Empathie sei etwas Gutes, aber wenn es bedeutete, dass man in einer fremden Ecke des Universums aufwachte, war sie sich nicht mehr so sicher. Das hatte man davon, wenn man Dinge als gegeben betrachtete.
»Wer ist Fenris?«, fragte sie.
»Der Wolf, der jagt, der Herold von Ragnarök, der gefräßige kleine Gott. Das große grüne Wesen, das auf ewig den Mond jagt.«
»Müsste er dann nicht Managarm heißen? Denn in der nordischen Mythologie …«
»Ich bin mir des Fehlers nur allzu bewusst.«
Sie gingen ein Stück weiter. Die Schreie der Traumfresser schienen abwechselnd von hinten und von vorn zu kommen. Es war unmöglich zu sagen. Abgesehen vom Licht der Fackeln und einem düsteren Schemen hier und da schien die Welt nur aus Schwärze zu bestehen.
»Warum hat Fenris Schmerzen?« Sie stellte die Frage einerseits, um sich davon abzulenken, was gerade passierte, andererseits aber auch, um ihre persönliche Neugier zu befriedigen.
»Er ist gefangen.«
Sie kicherte vor sich hin. »Sind wir das nicht alle? Stell dich hinten an, Junge.«
»Das ist wahr, Nummer Fünf. Aber für ein Wesen wie Fenris ist Gefangenschaft unerträglich. Die meisten Kreaturen sind dazu bestimmt, eine einzelne Existenzsphäre zu bewohnen, aber Fenris ist eines der seltensten Wesen – geschaffen, um die Ozeane der Existenz zu durchschwimmen, genauso wie du von einem Raum in den nächsten gehst. Stell dir vor, du wärst in einem Netz gefangen, aus dem du dich nicht befreien kannst und das sich nur fester zieht, je mehr du zappelst.«
Das klang wirklich ziemlich furchtbar. »Gibt es keine Möglichkeit, ihn zu befreien?«
West sah über die Schulter. Sein Gesicht war nichts als Schatten, bis auf die vier Augen, die im Fackelschein glänzten. »Das Netz ist dein Universum. Oder was du für dein Universum gehalten hast, bevor dir die Augen geöffnet wurden.«
»Oh.«
»Wenn es dir dann besser geht: Dies ist lediglich eine Unbequemlichkeit für Fenris. Seine Bemühungen, sich zu befreien, sind der Hauptgrund, warum es in deiner Realität Tränen gibt. Sein Zappeln reißt am Gefüge deiner Welt. Es hält ihn vielleicht eine Weile fest, aber er ist größer als die Mächte, die ihn binden. Er wird unausweichlich entkommen, selbst wenn er deine Welt dabei auslöschen muss.«
»Aber …«
»Oh, darüber würde ich mir keine allzu großen Sorgen machen, Nummer Fünf. Jetzt, da du in dem Gebäude wohnst, hängt deine Existenz nicht mehr an so etwas Empfindlichem wie der Realität. Also ist es eigentlich auch nicht dein Problem, oder?«
Sie fand das nicht sehr beruhigend.
»Hat noch keiner einen Weg gefunden, ihn zu befreien, ohne die Welt zu zerstören?«
»Falls es Kräfte gibt, die die Macht haben, das zu erreichen, ist ihnen das Wohlergehen dieses kleinen Universums in hohem Maße gleichgültig.«
»Aber …«
»Es ist noch lange hin«, sagte er. »Es passiert frühestens morgen oder übermorgen.«
Sie blieb stehen. »Was?«
Er ging weiter. »Oder vielleicht in drei Tagen. Oder am Tag danach. Die Ewigkeit bemisst sich immer von einem Augenblick zum anderen.«
Sie nutzte einen dieser Augenblicke, um sich auf das Wichtige zu konzentrieren, nämlich darauf, den Traumfressern zu entkommen. Dann holte sie ihn wieder ein.
»Wo sind wir?«
»Weißt du, wohin du gehst, wenn du schläfst? Wenn du die Augen schließt und niemand dich ansieht, nicht einmal du selbst?«
»Hierher?«
»Manchmal hierher«, sagte West. »Manchmal auch an andere Orte.«
»Willst du mir sagen, dass mein Körper, wenn ich schlafen gehe, an einen Ort wie diesen transportiert wird?«
»Mehr oder weniger. Es sei denn, jemand beobachtet dich.«
Sie kamen an einem anderen Bett vorbei, in dem ein älteres Paar schlummerte. Zwei von diesen Wesen schlichen um sie herum.
»Sollten wir nicht etwas tun?«, fragte sie.
»Was denn tun? Solange sie schlafen, ist alles gut. Glaub mir, sie aufzuwecken, würde nur Probleme machen.«
»Wie oft passiert das?«
»Ich habe es dir doch schon erklärt«, sagte er. »Jedes Mal, wenn dich keiner sieht.«
»Das hab ich
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