Der Mond ist nicht genug: Roman (German Edition)
abwenden wollte, konnte sie ihnen nicht entkommen. Ihr Körper wurde steif. Sie konnte sich nicht rühren. Sie konnte auch nicht denken. Sie hätte sich zu Tode fürchten müssen, aber diese Augen beraubten sie sogar ihrer Angst. Sie hinterließen lediglich eine hohle Kälte in ihrem Inneren.
»Wer bist du?«, fragte jemand.
Es war sie selbst. Sie hatte eine gewisse Kontrolle über ihren Körper. Sie erkannte ihre Stimme, auch wenn sie nicht spürte, wie sich ihre Lippen bewegten. Aber wenn sie sich konzentrierte, fühlte sie, wie die Luft aus ihren Lungen und durch ihre Kehle glitt.
Die Augen wurden schmal. Das Wesen knurrte.
Es kam auf sie zu. In der sonderbaren Dunkelheit um ihr Bett herum griffen die orange gefleckten Hände des Dings, geformt wie siebenzackige Sterne, nach ihrer Decke und zogen. Sie versuchte, sie festzuhalten. Das Monster schummelte: Man sollte nicht in Gefahr sein, wenn man sich unter der Bettdecke verstecken konnte!
Wenn sie nur die Lampe erreichen könnte, wenn sie sie nur anschalten könnte! Das Licht würde das Wesen vertreiben. Selbst wenn ihre Decke sie nicht schützen konnte, würde das Licht es tun. Noch während sie das dachte, sah sie aus dem Augenwinkel, dass ihr Arm schon nach der Lampe griff. Sie war nicht gelähmt. Nicht im eigentlichen Sinn. Sie war nur so von sich selbst abgeschnitten, dass es, sich zu bewegen, absolute Konzentration erforderte.
Sie konzentrierte sich auf ihren Arm und schaffte es, gerade genug Gefühl zu sammeln, um zu merken, dass die Lampe und der Nachttisch fehlten. Und jetzt, da sie hinsah, erkannte sie auch, dass alles andere im Raum außer dem Bett fort war. Und als sie ihren Blick nach oben zwang, sah sie einen Himmel voller trüber Sterne, die die Dunkelheit nicht im Geringsten erhellten.
Das Ding entriss ihr mit einem Kreischen die Decke und legte eine Hand um ihren Knöchel. Es wollte sie in die Schatten zerren und töten, und sie konnte verdammt noch mal nichts dagegen tun.
Eine Fackel direkt neben ihrem Bett erleuchtete die tintenschwarze Dunkelheit, und ein strenger Blick verscheuchte das Ding. Es verschwand, wenn sein unzufriedenes Geheul auch noch eine Weile widerhallte.
Plötzlich konnte sie sich wieder bewegen.
West, dessen pockennarbiges Gesicht von der Fackel beleuchtet wurde, sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Bist du das, Nummer Fünf?«
Sie bedeckte die Augen. Das Licht war so hell.
»Ja, ich bin’s. Was zum Henker war das?«
»Du solltest nicht wach sein«, sagte West.
Sie würde nicht zulassen, dass er das Thema wechselte. »Was zum Henker war das?«
»Traumfresser. Ich würde mir keine allzu großen Sorgen machen.«
»Keine Sorgen? Er wollte mich umbringen!«
»Er hat sich nur von deinen Albträumen ernährt.«
»Aber ich hatte gar keine Albträume.«
»Natürlich nicht. Er hat sie ja gefressen. Die Traumfresser leisten einen wichtigen Dienst, indem sie Negativität und andere gefährliche Emotionen auffressen, während man schläft. Ohne Traumfresser wäre die ganze menschliche Rasse schon lange verrückt geworden.«
»Warten Sie mal. Wollen Sie mir erzählen, diese Dinger sorgen für unsere geistige Gesundheit?«
»Du hast doch nicht geglaubt, deine zerbrechliche Psyche könnte sich ganz allein zusammenhalten, oder? Etwas muss doch den Ballast wegräumen, das überschüssige Klebezeug wegputzen, das die Räder verstopft.«
»Labroides dimidiatus« , sagte Diana.
»Aha.«
»Putzerlippfisch. Er bildet eine symbiotische Beziehung mit einem anderen Fisch, indem er die Hautschuppen frisst, die …«
»Ich weiß, was ein Labroides dimidiatus ist, Nummer Fünf.« Er zog eine zweite Fackel aus seiner Manteltasche und gab sie ihr. »Wir sollten dich von hier wegschaffen, bevor sie zurückkommen. Sie wollen nicht gern gesehen werden. Es macht ihnen Angst, das kann sie gefährlich machen.«
»Aber Sie sagten, sie seien symbiotisch.«
»Symbiotisch und leicht zu erschrecken. Macht allerdings nichts, solange man nicht zu plötzlich aufwacht, so wie du vorhin.«
Die Schreie des Traumfressers wurden von anderen seiner Art erwidert. Von vielen anderen.
»Du solltest mir jetzt wohl besser folgen.«
Sie trug ihren Pyjama, und der Boden unter ihren Füßen fühlte sich warm und matschig an. Wie Sand, der schon fast Matsch war. Jeder Schritt machte ein nasses Ploppgeräusch. Ein paar Schritte, und ihr Bett verschwand in der Leere. Sie sah einige Schemen in der Dunkelheit. Vielleicht Bäume. Vielleicht Felsen.
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